Die Auswirkungen der geplanten Aufhebung der Neupatientenregelung waren Anlass einer Sondersitzung der KBV, die am 9. September 2022 stattfand.

In der Veranstaltung wurden die Folgen der von der Politik aufgestellten Sparpläne aufgezeigt und ein deutliches Zeichen gegen die drohende Schwächung der ambulanten Versorgung gesetzt.

Die Neupatientenregelung wurde bundesweit vor drei Jahren mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz eingeführt, damit Patienten, die keinen Haus- oder Facharzt haben, schneller einen Termin bekommen. Es wurde festgelegt, dass die Leistungen für die Behandlung von Patienten, die erstmalig (oder seit mehr als zwei Jahren wieder) in der jeweiligen Arztpraxis behandelt werden, zu dem im EBM festgelegten Euro-Beträgen in voller Höhe vergütet werden. Mit dem GKV-Finanzierungsstabilisierungsgesetz will die Bundesregierung diese Regelung ab Januar 2023 wieder abschaffen.

Die Pläne des Bundesgesundheitsministers lösten in der niedergelassenen Ärzteschaft Unverständnis und Enttäuschung über die Unzuverlässigkeit der Politik aus. Zur Sondersitzung am 9. September 2022 in Berlin machten die Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigungen ihrem Ärger Luft.

Der Vertrauensverlust der Praxen in die Politik sei kaum noch rückgängig zu machen, sagte Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV. „Es kann einem tatsächlich Angst und Bange werden, wenn man sich die politischen Rahmenbedingungen in diesem Land anschaut.“, sagte er. „Die politisch herbeigeführte Verknappung eines bestehenden verbesserten Angebots für die Patienten ist das Eine. Etwas anderes, und ausnahmsweise nicht politisch verursacht, ist die fast schon pathologische Weigerung des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung, für die Versorgung der Versicherten insgesamt das erforderliche Geld zur Verfügung zu stellen. Und das seit Jahren!“ In einer Krisenzeit wie dieser werde nun die Axt genau dort angesetzt, wo das soziale Netz alles noch einigermaßen zusammenhalte, sagte er weiter. „Kommt das Gesetz so wie geplant, dann werden wir gezwungen sein, Termine und Sprechstunden zurückzufahren – mit entsprechenden versorgungsrelevanten Konsequenzen.“

Gerade in den letzten zwei Pandemie-Jahren habe sich das ambulante System in Deutschland wieder außerordentlich bewährt, auch wenn dies von der Politik nur selten öffentlich anerkannt werde, sagte Dr. Stephan Hofmeister, Stellvertretender Vorsitzender der KBV. „Die Diskussion um die Neupatientenregelung ist nur ein Kulminationspunkt, also der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“, sagte er weiter.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, bedankte sich für die Teilnahmemöglichkeit und sicherte der Ärzteschaft seine Unterstützung zu. „Was Verlässlichkeit bedeutet, das haben wir in unseren Arztpraxen in den letzten zwei Jahren auf mannigfaltigste Weise bewiesen.“ Ganz im Gegensatz zur Verlässlichkeit politischer Entscheidungen. Und wenn Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach von „wir“ spreche, sei dies eine unangemessene Aneignung bzw. Vereinnahmung der Ärzteschaft, denn er habe zwar Medizin studiert, sei aber kein Arzt, sagte er unter dem starken Beifall der Teilnehmer.

Nach den Verantwortlichen von KBV und BÄK meldeten sich auch die Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigungen zu Wort.

Ärzte fordern: Herr Minister, ziehen Sie diesen Vorschlag zurück!

Dr. Frank Bergmann von der KV Nordrhein bestätigte, dass durch die Neupatientenregelung allein im vierten Quartal 2021 etwa 200.000 Patienten mehr behandelt werden konnten als im vierten Quartal zwei Jahre zuvor. Seine Botschaft sei: Hier werde mit völlig unangemessenen Mitteln versucht, die Finanzen der Krankenkassen zu stabilisieren – zu Lasten der Patienten und zu Lasten der Vertragsärzte.

Weitere Redner betonten, dass zusätzliche Leistungen der Ärzteschaft nicht genügend gewürdigt oder als selbstverständlich angesehen, Probleme aber ignoriert würden. So hätten viele Bundesländer fast lautlos eine Bereitschaftsdienstreform gestemmt und die 116 117 sei bundesweit etabliert worden. Für die Probleme mit der gematik und den Anwendungen der Telematik-Infrastruktur seien jedoch noch immer keine zufriedenstellenden Lösungen in Sicht.

Dr. Jörg Berling von der KV Niedersachsen brachte ein frisches Zitat von Karl Lauterbach ein, der gesagt hatte, man werde die Krankenhäuser gut über den Winter bringen. „Weiß er denn eigentlich, dass rund 90 Prozent der Corona-Patienten in den niedergelassenen Praxen behandelt werden? Und wer bringt diese über den Winter?“ fragte er und machte seine Empörung über die unglaubliche Unterstellung der Krankenkassen deutlich, man habe durch das Impfen „satt verdient“. Er verwies nochmals auf die bedeutende Leistung der Arztpraxen, und dass eine Belastungsgrenze erreicht sei.

Dr. Dirk Heinrich von der KV Hamburg warnte vor den Plänen, „klinisch-ambulante Bereiche“ einzurichten und die medizinische Grundversorgung am amerikanischen Modell auszurichten. Er befürchte einen „schleichenden Umbau“ des Gesundheitssystems. „Wenn wir einer ausnahmeorientierten Gesundheitspolitik zustimmen, dann werden wir auf dieser schiefen Ebene immer weiter abrutschen“, gab er zu bedenken. Und er erläuterte die Herkunft der Idee für die Gesundheitskioske: Dieses Modell habe die KV Hamburg für soziale Brennpunkte entwickelt, und es habe nichts zu tun mit den von Karl Lauterbach geäußerten Vorstellungen! Dies sei ein „Etikettenschwindel“, sagte Heinrich weiter. Durch die „Aneignung“ dieser Idee befürchte er einen Missbrauch durch das Bundesgesundheitsministerium. „Ich kann dem Bundeskanzler nur empfehlen, diesen unsozialen, konzernorientierten Bundeskrankenhausminister zu entlassen!“

Dr. Stefan Windau von der KV Sachsen betonte noch einmal, dass der Wert des ambulanten Systems weder in seiner Stabilität noch in seiner Leistungsfähigkeit genügend Würdigung finde. Dabei übernähme es sogar eine soziale Pufferfunktion, gerade in schwierigen Zeiten wie diesen. Er beschloss die Diskussionsrunde mit einem abgewandelten Brecht-Zitat. Dieser schrieb in den 50er Jahren, die Regierung „solle sich ein neues Volk wählen“. Da es dazu nicht kommen werde, sei dem Bundeskanzler empfohlen, sich einen neuen Minister zu suchen, „das würde fürs erste reichen“.

Klares Votum aus über 50.000 Praxen: Neupatientenregelung muss bleiben!

Im Vorfeld der Sondersitzung hatte es Aufrufe zu Aktionen gegen die Streichung der Neupatientenregelung und zur Unterzeichnung eines Offenen Briefes an Gesundheitsminister Karl Lauterbach gegeben. 50.000 Praxen haben unterschrieben und fordern den Minister eindringlich auf: Die Neupatientenregelung muss bleiben! Die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger dürfe nicht eingeschränkt werden. Es sei der unmissverständliche Aufruf an den Bundesgesundheitsminister und die Bundesregierung, ihren Gesetzentwurf zum GKV-Finanzstabilisierungsgesetz noch zu ändern, ansonsten drohten unausweichlich Leistungskürzungen für Patienten. Das müsse verhindert werden, hieß es aus der KBV.

Erster Erfolg: Bundesrat stimmt gegen Streichung

Mehrere Bundesländer hatten sich bereits für den Erhalt der Neupatientenregelung ausgesprochen und entsprechende Anträge in den Bundesrat eingebracht. Kritisiert wurde dabei auch, dass bislang eine sachgerechte Evaluierung fehle. Am 16. September 2022 hat sich der Bundesrat mit klarer Mehrheit dagegen ausgesprochen, die Neupatientenregelung zu streichen. Damit verbindet sich nun die Hoffnung, dass das Bundesgesundheitsministerium (BMG) einlenken und auf die Streichung verzichten wird.

Weg der Gesetzgebung

Das BMG ist nun im Zugzwang und muss sich äußern. Mit etwas Glück folgt es dem Bundesrat. Doch auch bei einer gegenteiligen Stellungnahme geht das Gesetz in die erste und zweite Lesung in den Bundestag. Dort müssen Änderungsanträge der Fraktionen berücksichtigt werden. Dafür ist nochmals die Zustimmung des Bundesrates notwendig. Die erste Lesung dient einer Debatte über die politische Bedeutung des Gesetzesvorhabens und seiner Ziele. Anschließend wird die Vorlage zur Beratung an die Ausschüsse überwiesen, in denen eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gesetzentwurf stattfindet. Die Beratung in den Ausschüssen schließt mit einem Bericht, der das Ergebnis der Beratungen enthält, und mit der Beschlussempfehlung für das Plenum. Die Fassung des Gesetzentwurfs, die der federführende Ausschuss vorlegt, wird dann im Plenum in der zweiten Lesung beraten. Jeder Abgeordnete kann in diesem Stadium der Beratungen weitere Änderungsanträge stellen. Ist der Entwurf in der zweiten Lesung unverändert angenommen worden, folgt direkt darauf die dritte Lesung

Nach jetzigem Kenntnisstand wurde der Gesetzentwurf zur weiteren Beratung an den federführenden Gesundheitsausschuss überwiesen. Die zweite und dritte Lesung im Bundestag findet am 20. Oktober 2022 und der zweite Durchgang im Bundesrat am 28. Oktober 2022 statt.