"Ich denke, dass die Balance zwischen den Rechten und Pflichten aus den Fugen geraten ist."

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

im September neigt sich der Sommer, die Ferien sind Vergangenheit und die Urlauber inzwischen in die Heimat zurückgekehrt. Nach zwei entbehrungsreichen Corona-Jahren war es wieder einmal möglich, relativ unbeschwert zu verreisen und ich hoffe, Sie haben mit Ihren Familien die Zeit nutzen können, um je nach Gusto einen entspannt erholsamen oder investigativ erlebnisreichen Urlaub zu verleben. „Wir wären ja so gerne noch geblieben, aber die Pflicht ruft uns zurück“, hat so manche Familie vielleicht beim Abschied von ihren Gastgebern oder Reisebekanntschaften mit Wehmut empfunden.

Aber welche Pflichten sind es genau, die Vertragsärzte in ihre Praxen zurückrufen und wie stehen diese in Relation zu den Rechten? Interessanterweise entstehen alle vertragsärztlichen Pflichten erst, nachdem man sein Recht auf Erteilung einer Zulassung wahrgenommen und die Kriterien dafür nach Ärzte-ZV erfüllt hat.

Mit der Zulassung erhält der Vertragsarzt das Recht, aber auch die Pflicht, im Rahmen des Sachleistungssystems die Behandlung von Versicherten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung durchzuführen und über die jeweilige KV abzurechnen.

Es besteht die Pflicht der persönlichen Leistungserbringung mit einigen näher definierten Ausnahmen durch Delegierung und Vertretung. Des Weiteren sind die Präsenzpflicht und die Verpflichtung zur Teilnahme am Bereitschaftsdienst gefordert. Bis 2012 bestand noch die Residenzpflicht, die infolge der ausreichenden Mobilität von Ärzten und den zunehmenden Problemen, ländliche Stellen zu besetzen, ersatzlos aufgehoben wurde.

Darüber hinaus muss sich der Kassenarzt verbindlich an die Bestimmungen des Bundesmanteltarifvertrages halten und die Richtlinie des G-BA und die berufsrechtlichen Vorgaben beachten.

Auf der Seite der Rechte kommt hinzu, dass jede Ärztin und jeder Arzt kraft der automatisch bestehenden Mitgliedschaft in einer Kassenärztlichen Vereinigung an Wahlen für die Vertreterversammlung teilnehmen und für die Selbstverwaltung kandidieren kann. So weit, so trocken – und sicher allgemein bekannt – die gesetzlichen Grundlagen.

Auf Anregung der Verwaltung unserer KV-Bezirksgeschäftsstelle möchte ich zwei Bereiche näher beleuchten, weil dort häufiger Anfragen und Beschwerden von Kollegen, Patienten, Behörden oder den Mitarbeitern der KV-Bereitschaftspraxen eingehen.

Bezüglich der Präsenzpflicht hat die KV Sachsen schon im Begleitbrief zur Honorarabrechnung 1/2022 auf die allgemein schlechtere Erreichbarkeit von Arztpraxen für Patienten hingewiesen. Aber auch für mich als ehrenamtlicher Leiter war es durchaus schwierig, für ein Gespräch mit den Kollegen eine freie Leitung zu erwischen. Mitunter war es auf telefonischem Wege zu den Praxisöffnungszeiten überhaupt nicht möglich, so dass andere Kanäle benutzt werden mussten, die aber Patienten nicht zur Verfügung stehen. Es besteht mit Sicherheit eine große Deckungslücke beim Personal der Praxen, aber das darf nicht dazu führen, dass Menschen, die nicht über die modernen Möglichkeiten der Kommunikation verfügen, ausgegrenzt werden. Betroffen sind vor allem die Senioren und damit eine bedeutende Gruppe unserer Patienten. Unter Tränen berichtete mir kürzlich ein 92-jähriger Patient, der aber noch selbstbestimmt zu Hause leben kann, wie er mehrfach an einem digitalen Telefonassistenten gescheitert ist und sich dann per pedes und auf Verdacht, aber letztlich erfolglos, in die Zielpraxis begeben hatte.

Schon in den KVS-Mitteilungen von 2014 war angemahnt worden, dass gegebenenfalls für die Zeiten außerhalb der Sprechstunde, wenn kein Vertreter benannt und kein organisierter ärztlicher Bereitschaftsdienst eingerichtet ist, eine Handy-Nummer für dringende Anliegen von Patienten benannt werden sollte, unabhängig von der Fachrichtung.

Somit ließen sich auch eine Reihe ungerechtfertigter Einsätze von Rettungsdiensten verhindern, was auch ein Zeichen der Kollegialität und der Wertschätzung für deren Arbeit wäre. Gehen Sie also noch einmal mit Ihren Teams in die Beratung, um nach Möglichkeiten zu suchen, die geschilderten Probleme abzumildern. Beim heutigen Stand kann die Digitalisierung dafür noch nicht als Problemlöser herhalten.

Auch bezüglich der Wahrnehmung des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes gibt es aus meiner Sicht Optimierungsbedarf. Es ist nicht zu tolerieren, wenn Kollegen bei m. E. sachlicher Kritik an dessen Durchführung durch Patienten oder Mitarbeiterinnen der BD-Praxen lax antworten, dass wir sie ja vom Dienst befreien könnten, wenn uns die Art der Dienstdurchführung nicht gefallen sollte. Auch Unpünktlichkeit und unentschuldigtes Fehlen beim Dienstantritt lassen immer wieder unangenehm aufhorchen und führen dazu, dass andere diensthabende Kollegen eine Mehrbelastung tragen müssen. Es ist schon erstaunlich, wenn ein Kollege über die zweieinhalb Corona-Jahre keinen einzigen Dienst durchgeführt hat, weil er pünktlich vor Dienstbeginn jeweils eine Corona-Quarantäne gemeldet hatte. Die Kriterien für eine komplette oder teilweise Befreiung vom Bereitschaftsdienst sind innerhalb der KV Sachsen durchaus streng und lassen auf Grund der angespannten personellen Situation auch wenig Spielraum für die weitergehende Befreiung aus Altersgründen. Sie können sich sicher vorstellen, dass die KV Sachsen disziplinarische Maßnahmen nur ungern einsetzt.  Aber Kollegialität, Solidarität und Bereitschaft zum Engagement auch dort, wo es ein bisschen wehtut, sollten eigentlich selbstverständlich sein.

Wie kommt es nun, dass dem früher positiv besetzten Begriff, als es noch hehre und gar heilige Pflichten gab, inzwischen eher die Adjektive „lästig“ und „unzumutbar“ angehängt werden? Ich denke, dass die Balance zwischen den Rechten und Pflichten zunehmend aus den Fugen geraten ist und weitere Erosion droht. Und das liegt sicherlich nicht an den oben skizzierten langjährig bestehenden basalen Pflichten, sondern an den durch die überbordende Gesetzgebung der letzten Jahre eingeführten Bestimmungen mit der Strafandrohung bei Verweigerung trotz erheblicher technischer und ärztlicherseits unverschuldeter Mängel. Das betrifft natürlich die Pflicht zur Einführung der ePA, der eAU und des eRezeptes. Das unsägliche Management seitens der Verantwortlichen und das Beharren der Politik auf Digitalisierung um jeden Preis sowie die Ignoranz gegenüber den Interventionen der KBV als unserer Interessenvertretung haben zu Wut, Verweigerung und teilweise Resignation geführt.

Leider kann man durch den Verzicht auf Rechte – z. B. das Wahlrecht – nicht ein Guthaben bei den Pflichten erwirtschaften. Im Gegenteil! Nur durch eine höhere Wahlbeteiligung kann die Vertreterversammlung der KV Sachsen mit mehr Legitimation die Interessen unserer Mitglieder vertreten. Leider lag die Wahlbeteiligung im KV-Bezirk Dresden bei dem identisch niedrigen Wert wie bei der OB-Wahl, nämlich 41,3 Prozent. Man kann daraus schließen, dass kommunale und Standespolitik ähnliche Probleme haben.

Optimistisch für die kommende Legislatur 2023 bis 2028 stimmt mich, dass einige junge Kolleginnen und Kollegen mit ihrer erfolgreichen Kandidatur für die Vertreterversammlung den Sprung vom Kritisieren zum Mitgestalten gewagt haben und mit Sicherheit eine Belebung für das neue Gremium sein werden. Ein wichtiger Teil ihrer Wahlfunktion als Vertreter oder Stellvertreter wird es sein, die Balance zwischen Pflichten und Rechten der Vertragsärzte wieder so einzustellen, dass Pflichterfüllung als ehrenhafte Aufgabe und aus Einsicht auch weniger missmutig empfunden wird und die Wahrnehmung von Rechten als Privileg in das Bewusstsein einfließen kann. Das dies nach dem meteorologisch heißen Sommer und dem zu erwartenden hitzigen gesundheitspolitischen Herbst langfristig gelingt, wünscht sich und noch mehr Ihnen der scheidende Ärztliche Leiter der Bezirksgeschäftsstelle Dresden.

Bleiben Sie optimistisch dank aufgefüllter Akkus nach dem Urlaub!

 

Ihr Johannes-Georg Schulz