Wie sich zwei Berliner Ärztinnen im damaligen Deutschen Kaiserreich über alle Widerstände und Zweifel hinwegsetzten und so auch künftige Medizinstudentinnen zum Weg in die eigene Praxis ermutigen.

Etwas mehr als die Hälfte aller derzeit in Sachsen tätigen Mediziner sind Frauen. Auch im bundesweiten Vergleich lässt sich feststellen: Die Medizin wird weiblich. Noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wäre die heute selbstverständliche Gleichbehandlung bei der Berufswahl völlig ausgeschlossen gewesen. Denn weiblichen Studenten war der Zugang zu den Universitäten versperrt.

Die strukturelle Ausgrenzung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts an den Hochschulen im deutschsprachigen Raum blieb bis weit in das 19. Jahrhundert hinein eine feststehende Tatsache. Frühe Vorreiterinnen des Frauenstudiums wie die Quedlinburger Ärztin Dorothea Erxleben (1715 – 1762), die als erste promovierte Medizinerin in den deutschen Ländern einen Universitätsabschluss erlangen konnte, waren die absolute Ausnahme, da eine Zulassung zur Examensprüfung nur auf Weisung von höchster Stelle gewährt wurde.

Von Zürich nach Berlin

Im Gegensatz zum preußisch dominierten Kaiserreich ließen die Schweizer Universitäten bereits seit den 1860er Jahren auch ausländische Studentinnen zum Studium zu. Im Oktober 1870 schreibt sich die Fürther Pfarrerstochter Emilie Lehmus (1841 – 1932) als erste Medizinstudentin aus Deutschland an der Universität in Zürich ein. Ihr folgt ein Jahr später ihre Kommilitonin Franziska Tiburtius (1843 – 1927), Tochter eines Gutspächters auf der Insel Rügen. In den Vitae von Lehmus und Tiburtius finden sich auffällig viele Parallelen: Beide stammen aus gutbürgerlichen Verhältnissen und schlossen vor ihrer Entscheidung, Medizin zu studieren, ein Lehrerinnenexamen ab. Nach ihrem gemeinsamen Studium in der Schweiz waren beide zudem für ihr Praxisjahr an der Königlichen Entbindungsanstalt und Frauenklinik unter Prof. Franz von Winckel (1837 – 1911) in Dresden tätig – zur damaligen Zeit der einzige Professor in Deutschland, der Assistentinnen an seiner Klinik ausbildete.

Die Entscheidung für das Medizinstudium gründete mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Bekanntschaft beider Frauen mit Henriette Hirschfeld (1834 – 1911), der ersten in Deutschland tätigen Zahnärztin, die ihren berufsqualifizierenden Studienabschluss zuvor in den Vereinigten Staaten erlangte. Henriette Hirschfeld war zudem mit Tiburtius‘ Bruder, dem Militärarzt a. D. Karl Tiburtius verheiratet. Franziska Tiburtius führte anfangs gar eine gemeinsame Praxis mit ihrer bekannten Schwägerin, bevor sie sich schließlich mit ihrer ehemaligen Mitstudentin aus Zürcher Tagen, Emilie Lehmus, für eine Praxisgründung zusammenschloss. Beide Frauen waren damit die ersten Ärztinnen im noch jungen Deutschen Kaiserreich, als sie am 18. Juni 1877 ihre gemeinsame „Poliklinik weiblicher Ärzte für Frauen und Kinder“ im Berliner Arbeiterstadtteil Prenzlauer Berg eröffneten. Durch ihren direkten Kontakt mit der Lebenswirklichkeit des Proletariats sahen sich Lehmus und Tiburtius dabei unmittelbar mit den sozialen Konflikten und gesellschaftlichen Verwerfungen der rasant wachsenden Metropole konfrontiert.

Unter den Frauen, die die Praxis in der Alten Schönhauser Straße 23/24 aufsuchten, befanden sich viele bedürftige Patientinnen, die die kostengünstige Behandlung gern in Anspruch nahmen: „Konsultationen zehn Pfennige, für Unbemittelte kostenlose Arznei“ lautete das Angebot der beiden Ärztinnen für ihre Patientinnen und Kinder. Mit Unterstützung durch den Berliner Frauenverein konnten mittellose Patientinnen zudem unentgeltlich behandelt werden. Mit dem Bedürfnis, sich nun einer Ärztin anvertrauen zu können, fanden jetzt auch Frauen den Weg in die Praxis, die sich in Gegenwart männlicher Ärzte damals nicht in gleicher Weise offenbaren konnten wie einer Frau gegenüber.

Engagierte Vorkämpferinnen

Hatte die aufkommende Frauenbewegung noch zu Beginn ihres Studiums keinen wesentlichen Einfluss auf die beiden Medizinerinnen gehabt, engagierte sich nun vor allem Franziska Tiburtius, bedingt durch ihre Erfahrungen im Studium und während ihrer Praxistätigkeit, zunehmend für das Frauenstudium. 1904 hielt Tiburtius auf dem Internationalen Frauenkongress in Berlin einen Vortrag über die Stellung der Ärztinnen in Deutschland und Emilie Lehmus gehörte 1908 zu den Mitbegründerinnen der Vereinigung weiblicher Ärzte.

Die Erfahrungen mit den Vorurteilen und Anfeindungen vonseiten der männlichen Fachkollegen während ihres Medizinstudiums und in den darauffolgenden Jahren werden beide in ihrer Rolle als Vorkämpferinnen für eine gerechtere Hochschulpolitik bestärkt haben. Unter den namhaften Vertretern der männlichen Ärzteschaft blieb Emilie Lehmus insbesondere Rudolf Virchow als „gehässigster“ Gegner des Frauenstudiums in Erinnerung. Trotz aller Widerstände und der Geringschätzung durch ihre Kommilitonen schlossen Lehmus und Tiburtius ihre Promotion jeweils mit dem Prädikat „summa cum laude“ ab.

Mit dem Beschluss des Bundesrats des Deutschen Kaiserreiches vom 20. April 1899 durften Frauen offiziell Medizin studieren, umgesetzt wurde dies allerdings vorerst nur im Land Baden. Preußen folgte als einer letzten deutschen Teilstaaten mit der Öffnung der Universitäten für Frauen zum Wintersemester 1908/09. Bereits im März 1901 absolvierte die in Ostpreußen gebürtige Ida Democh-Maurmeier (1877 – 1950) als erste in Deutschland approbierte Ärztin ihr Staatsexamen an der Universität in Halle und eröffnete anschließend ihre Praxis in der Dresdner Johannstadt.

Emilie Lehmus und Franziska Tiburtius kam nicht nur das Verdienst zu, die ersten niedergelassenen Ärztinnen in eigener Praxis in Deutschland zu sein – ihre Bedeutung liegt vor allem in der unnachgiebigen und starken Persönlichkeit beider Frauen, mit der sie sich gegen die ablehnende Haltung ihrer männlichen Kollegen und den damals offenbar salonfähigen Chauvinismus durchsetzten und – ungeachtet aller geschlechtsbezogener Vorurteile – ihr Ziel verwirklichten: als Ärztin zu arbeiten.