"Natürlich müssen wir alle uns auch selbst fragen, was wir zukünftig anders machen sollten."

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

derzeit fällt es schwer, sich die Ruhe zu nehmen, um die Zeit der Corona-Pandemie zu resümieren. Der Krieg in der Ukraine sowie dessen politische und wirtschaftliche Folgen bestimmen das Tagesgeschehen. Dennoch halte ich gerade in der jetzigen Zeit ein solches Resümee für wichtig. Mit dem vorhandenen Wissen über das Virus, den sinkenden Infektionszahlen sowie den Eigenschaften der derzeit vorherrschenden Omikron-Variante sind wir in einer Situation, die es uns erlaubt, erste Überlegungen anzustellen, was zum einen im weiteren Verlauf der Pandemie noch sinnvoll ist, aber auch wie in Zukunft in einer vergleichbaren Situation vorgegangen werden sollte. Auch auf die Fragen, die wir in der Sonderausgabe 2020 der KVS-Mitteilungen stellten:

  • Wie schnell wird es zur vollständigen Durchseuchung der Bevölkerung und damit zum „Totlaufen“ der Infektion kommen?

  • Wie viele Menschen werden schwer erkranken, wie viele werden sterben?

  • Werden – wie bei der saisonalen Influenza – ganz vorrangig die betroffen sein, die sehr alt und / oder krank sind, oder wird es auch eine erhebliche Zahl Junger und Gesunder treffen?

gibt es zwischenzeitlich erste Antworten.

Die erste Frage lässt sich aus heutiger Sicht insoweit beantworten, dass eine Durchseuchung der Bevölkerung bisher nicht erreicht wurde und die Mutationen des ursprünglichen Virus dies wohl auch künftig erschweren werden. Aber auch mit dem Impfen werden wir das Ziel einer (weltweiten) Herdenimmunität vorerst nicht erreichen. Wir werden wohl mit diesem Virus leben müssen. Wenn wir Glück haben mit zwar noch infektiöseren, aber weniger pathogenen Varianten.

Bei der zweiten Frage geht es um Zahlen – Zahlen, über die wir täglich informiert werden und die zum Gradmesser für politische Entscheidungen sowie für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von drastischen Eingriffen in das gesellschaftliche und persönliche Leben wurden. Dass damit nicht immer sorgsam umgegangen wurde, zeigen die Beispiele aus Hamburg und Bayern, wo Ende letzten Jahres die Inzidenz getrennt nach geimpften und ungeimpften Erkrankten angegeben wurde, obwohl der Impfstatus eines Großteils der Erkrankten (Hamburg: fast 70 Prozent) nicht klar war und diese als ungeimpft eingestuft wurden. Und wer meinte, dass zumindest die Zahl der Gestorbenen ein objektives Kriterium sei, musste sich während der Corona-Pandemie eines Besseren belehren lassen. Auch wenn Untersuchungen aus dem Jahr 2020 belegen, dass von den Corona-Toten fast alle „an“ Corona verstorben seien, gilt das heute mit Sicherheit nicht mehr. Ich bin daher skeptisch, wenn der Bundesgesundheitsminister erst vor kurzem von täglich mehreren hundert Corona-Toten sprach, ohne eine diesbezügliche Unterscheidung vornehmen zu können. Warum übrigens „zu können“? Es wäre sehr einfach, die gemeldeten Todesfälle nach „an“ und „mit“ Corona zu differenzieren. Dass man es nicht tut, gibt den Zweiflern Nahrung.

Zur dritten Frage wissen wir heute, dass alle Altersgruppen von dem Virus betroffen waren und sind. Natürlich waren die älteren und vorerkrankten Menschen sehr viel stärker betroffen als die jungen und gesunden Menschen. 84,6 Prozent der bisherigen Corona-Toten waren über 70 Jahre alt (bei einem Bevölkerungsanteil der über 70-jährigen von 15,7 Prozent). Aber gerade die Jüngeren mussten unverhältnismäßig große Eingriffe in ihre Freiheitsrechte hinnehmen. Hier hätte aus meiner Sicht ein konsequenterer Schutz der vulnerablen Gruppen zumindest etwas mehr Bildung und Freiheit für Kinder und Jugendliche ohne Vorerkrankungen zugelassen.

Der Virologe Christian Drosten steht als ein Sinnbild für mehrere Entwicklungen während der Pandemie. Zum einen wurde an der Charité der PCR-Test auf Covid-19 entwickelt und am 16. Januar 2020 erstmals vorgestellt. Es wäre aber auch ein Segen gewesen, wenn er sich genauso aktiv dafür verwendet hätte, so schnell wie möglich in ausreichender Menge Schnelltests bereitzustellen (die seit Anfang Februar 2020 in Südkorea vorhanden waren). Zusammen mit Kollegen berät Drosten aber auch die Bundesregierung bei ihrem Vorgehen. Das wurde notwendig, da die Corona-Pandemie schnell ein Ausmaß annahm, mit welchem sie zur Chefsache in den Kommunen, Ländern, im Bund und auch in der Europäischen Union erklärt wurde. Die Menschen brauchten nun konkrete Antworten von der Politik auf wichtige Fragen, da sich die Pandemie auch auf wirtschaftliche und soziale Bereiche auswirkte. Nicht nur für Selbständige war schnell auch die wirtschaftliche Existenz gefährdet.

Oft benutzte Phrasen, Beschwichtigungen und dann immer mehr alarmistische Äußerungen von Politikern, aber auch von Experten (?) führten schnell zu Unmut und Unglaubwürdigkeit. Jens Spahn am 28. Januar 2020 vor dem Deutschen Bundestag: „Es war zu erwarten, dass das Virus auch Deutschland erreicht. Der Fall aus Bayern zeigt aber, dass wir gut darauf vorbereitet sind. Die Gefahr für die Gesundheit der Menschen in Deutschland durch die neue Atemwegserkrankung aus China bleibt nach Einschätzung des RKI weiterhin gering“. Frank Ulrich Montgomery Ende April 2020: „Masken sind Unsinn.“ Lothar Wieler am 30. April 2020: „Der Test ist eine Momentaufnahme, ein negatives Testergebnis kann auch zu falscher Sicherheit führen, deshalb raten wir weiter davon ab, alle Menschen zu testen.“ Franziska Giffey am 1. November 2020: „Bevor wir Kitas und Schulen schließen, sind alle anderen Dinge dran.“ Helge Braun am 4. Juli 2021: „Solange unsere Impfung sehr gut wirkt, kommt ja ein Lockdown zulasten derer, die vollständig geimpft sind, auch nicht infrage.“ Angela Merkel am 13. Juli 2021: „In Deutschland wird es keine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen geben“. Das kommunikative Desaster zur letztendlich gescheiterten allgemeinen Impfpflicht war dann ein gewisser negativer Höhepunkt.

Generell verbreiteten Politiker aus Unwissenheit häufig Angst über die Medien. Sie diente als Begründung für politisches Handeln und tut dies zum Teil heute noch. Am Ende seiner Amtszeit trug auch Gesundheitsminister Spahn dazu bei, indem er für dieses Frühjahr am 22. Oktober 2021 prophezeite, dass alle Deutschen dann „geimpft, genesen oder gestorben“ seien. Man möchte das einfach gar nicht mehr kommentieren, aber schlimmer geht offensichtlich immer, was dann unser „Panik-Karl“ bestätigte.

Mit der Einführung des ersten Impfstoffes von BioNTech Ende 2020 gegen die damals vorherrschende Alpha-Variante des Virus, welcher auch nach anderthalb Jahren noch gegen die Omikron-Variante verwendet wird, waren umfangreiche Hoffnungen verbunden. Viele Menschen konnten es kaum erwarten, die Impfung zu erhalten, doch der Impfstoff war knapp. Und damit wurde eine Priorisierung erforderlich. Ältere Personen und die sie Pflegenden sowie Personen mit Immundefiziten wurden zuerst geimpft. Im Juni 2021 wurde diese Priorisierung richtigerweise aufgehoben, aus mir unbekannten Gründen in der Folgezeit aber auch nicht wieder eingeführt. Das war im Spätherbst 2021 mit Sicherheit nicht richtig.

Doch es zeichnete sich auch sehr bald ab, dass nicht alle Menschen bereit waren, sich impfen zu lassen. In einigen Bundesländern, vor allem in Sachsen, wurde schnell klar, dass die Anzahl der Impfverweigerer so groß war, dass die angestrebte Durchimpfungsrate von ca. 90 Prozent auf freiwilliger Basis nicht erreicht werden konnte. Im vergangenen Sommer begann daher die Diskussion um eine Impfpflicht auch in Deutschland. Noch Anfang November vergangenen Jahres sprach sich dabei die amtierende Bundesregierung unter Angela Merkel, zu der auch unser jetziger Bundeskanzler Olaf Scholz gehörte, gegen eine gesetzliche Impfpflicht in Deutschland aus, während die europäischen Länder, die sich für eine Impfpflicht für bestimmte Gruppen entschieden (Frankreich, Italien, Ungarn), dies spätestens im Spätherbst 2021 umgesetzt hatten.

In Deutschland wurde nach einem Eilverfahren die einrichtungsbezogene Impfpflicht im deutschen Gesundheitswesen am 10. Dezember 2021 mit Wirkung ab 16. März 2022 (!) beschlossen. Diese wurde bis heute nicht konsequent durchgesetzt und es kann am Ende nur noch die Angst vor einem Gesichtsverlust als Motivation für ein Festhalten an der Impfpflicht angenommen werden, dies besonders, nachdem am 7. April 2022 die allgemeine Impfpflicht im Bundestag gescheitert war.

Was haben wir alle nun aus der Corona-Pandemie gelernt?
Aus meiner Sicht mindestens folgendes:

  1. Den Politikern und Experten ist zu raten, plakative und absolute Aussagen vor allem am Anfang einer Pandemie zu vermeiden – ob dies bei der herrschenden „Twitter-Mentalität“ gelingt, ist allerdings fraglich.

  2. Von Anfang an Konzentration auf den Schutz der vulnerablen Gruppen, das heißt u. a. tägliche PoC-Tests bei Pflegeheimpersonal, wobei die schnelle Bereitstellung dieser Tests (möglichst auch als „Spuck“-Test) mindestens so wichtig ist wie die Entwicklung eines Impfstoffes

  3. Bevorratung mit Schutzausrüstung ohne Abhängigkeit von außereuropäischen Herstellern

  4. In einer vergleichbaren Situation sollte alles versucht werden, um Lockdowns zu vermeiden.

  5. Das Schließen von Kindereinrichtungen und Schulen ist offensichtlich unverhältnismäßig.

  6. Es sind repräsentative Bevölkerungstestungen inkl. Immunitätsbestimmungen unabdingbar, um das Infektionsgeschehen erfassen und bewerten zu können.

Die Punkte 2 und 6 hatte die KV Sachsen allerdings schon seit März 2020 immer wieder eingefordert.

Es bleibt also zu hoffen, dass wir alle mit dem Hintergrund der Erfahrungen aus über zwei Jahren Pandemie auch den wohl wieder etwas stürmischeren Herbst gut überstehen und – falls wir noch einmal eine Pandemie erleben sollten – auch die in der Politik und Wissenschaft Verantwortlichen durch einen behutsameren Umgang mit dem Thema die Bevölkerung – besser, als es jetzt der Fall war, „mitnehmen“ können.

Natürlich müssen wir alle uns auch selbst fragen, was wir zukünftig anders machen sollten. Die Frage muss sich natürlich auch die KV Sachsen jetzt stellen und wir bitten Sie deshalb darum, hierzu Anregungen aus Ihrer Sicht zu geben.

Mit freundlichen kollegialen Grüßen

Ihr Klaus Heckemann