„Was uns manchmal fehlt? Vielleicht nur eine Kleinigkeit. Vielleicht nur eine Schulter zum Anlehnen.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Gewissheit definiert sich als:

  1. sicheres Gefühl, Wissen in Bezug auf etwas [Geschehendes],

  2. etwas, das für jemanden unanzweifelbar eintritt oder sich unanzweifelbar in bestimmter Weise verhält; unanzweifelbare Sache,

  3. absolute Zuverlässigkeit, Bewusstsein, Klarheit, sichere Kenntnis.

Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht. Wir hätten vielleicht schon eher auf Joachim Ringelnatz hören sollen, denn nun stehen wir da mit den Scherben unserer Gewissheiten, die wir, wenn wir ehrlich sind, höchst selten hinterfragen – wenn sie nur zu unserem Leben und unserer Bequemlichkeit passen. Wir leben gesund und damit lange – und dann kommt eine Pandemie.

Wir können zum Mond fliegen, ergo auch jede Krankheit irgendwie in den Griff bekommen. Wissen Sie, wann wir das letzte Mal zum Mond geflogen und darauf herumgehopst sind? Mal abgesehen vom Sandmännchen an einigen Abenden, war es das letzte Mal am 12. Dezember 1972 gelungen. Und schon ist unsere Gewissheit, dass der Mensch alles und vor allem sofort kann, mächtig ins Wanken geraten. Und haben wir dann doch Dank Aufklärung, Hygienekonzepten und Impfung endlich das Gefühl, die Pandemie vielleicht zu stoppen, belehren uns die Infektionszahlen eines Besseren.

Bleibt die Gewissheit, dass sich ein Virus mit der Zeit abschwächt oder sich zumindest natürliche Immunität entwickelt – obwohl wir doch seit HIV wissen müssten, dass das eher eine vage Hoffnung ist. Und in dieses bestenfalls vulnerable Gleichgewicht kracht ungebremst die nächste Katastrophe. Jeder von uns hat sich in diesen unsicheren Zeiten einzurichten versucht. Der eine gewöhnt sich an die Unsicherheit, der andere muss regelmäßig spazieren gehen und der Dritte stürzt sich zur Ablenkung in die Arbeit. Das alles sind Möglichkeiten des Umganges damit, wenn nur ein paar andere Gewissheiten bestehen bleiben. Gewissheiten, über die man nicht mehr nachdenken wollte, weil sie für den Großteil von uns absolut unumstößlich waren, sodass wir sie inzwischen zumindest in unseren Breiten schon fast als Selbstverständlichkeit feststellen konnten.

Und für die unruhigen Geister gab es Literatur und Beschwichtigungen oder auch das beruhigende Gedicht von Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko von 1961 „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“ – vertont ein Hit, der weltweite Bekanntheit bei den Weltfestpielen in Helsinki 1962 erlangte und nun leider mit JA zu beantworten sein muss.

Somit sind zwei Grundfesten in unserem Leben weggebrochen und kein Plan des Lebens hat uns geholfen, sich darauf einzustellen. Stattdessen verfallen wir in hektische Betriebsamkeit, kaufen Nudeln, Toilettenpapier und Speiseöl in nicht mehr handelsüblichen Mengen, kennen plötzlich die Seite des bislang im Dornröschenschlaf liegenden und allenfalls bei belächelten Preppern bekannten Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Es tauchen Fragen auf, deren Existenz bislang überhaupt nicht vorstellbar war – Wohin würdest Du fliehen? Gibt es bei euch im Stadtteil noch Bunker? Wie und wo lagert man 100 Liter Wasser für den Fünf-Personen-Haushalt? Betriebsamkeit, die die Hilflosigkeit überspielen und uns tatsächlich wieder ein kleines bisschen Sicherheit und Kontrolle über nicht kontrollierbare Situationen geben soll. Und tatsächlich gibt es keine einfachen Lösungen für diese Probleme und auch nicht jede noch bestehende Gewissheit ist Trost – denn die Sicherheit, dass der Verlauf einer Erkrankung foudroyant tödlich ist, bringt in den seltensten Fällen Ruhe in das Leben des Erkrankten.

Und doch ist dem Menschen als intelligentem Lebewesen etwas gegeben, was uns zumindest bis in die heutige Zeit hat überleben lassen: das Erkennen kausaler Zusammenhänge, das flexible Einstellen auf neue Gegebenheiten sowie das Erschaffen von Werkzeugen zur Bewältigung von Problemen und die Fähigkeit, das alles auch gegen Widerstände nach ethisch-moralischen Prinzipien anzugehen.

Diese Errungenschaften des zivilen Lebens – auch wenn sie bei einigen nur noch rudimentär ausgeprägt sein können – helfen uns in scheinbar ausweglosen Situationen und lassen uns handeln, z. B. um denen zu helfen, die unserer Hilfe bedürfen. Die Welle der Hilfsbereitschaft ist vielen ein Trost und eine neue Gewissheit, dass der Mensch nicht nur des anderen Wolf sein muss.

Lassen Sie uns also neue Gewissheiten schaffen, die uns zukünftig ein wenig Sicherheit geben und uns den Alltag wieder meistern lassen. Zum Abschluss das Zitat eines unbekannten Schreibers:
„Was uns manchmal fehlt? Vielleicht nur eine Kleinigkeit. Vielleicht nur eine Schulter zum Anlehnen.“

Ihnen allen immer eine Schulter zum Anlehnen! Und wenn sich tatsächlich einmal keine für Sie finden sollte, dann bieten Sie die Ihre an – ein anderer braucht sie ganz bestimmt, das ist gewiss.

Herzlichst Ihre

 

Grit Richter-Huhn