Alle Entscheidungsträger, die dazu beitragen können, wären sehr gut beraten, bis zum letzten Moment um eine diplomatische Lösung zu kämpfen."

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

bei der Schnelllebigkeit der Ereignisse ist es kaum möglich, sich hinreichend aktuell zu äußern, da zwischen dem Schreiben des Artikels und dem Tag, an welchem das Heft in Ihrem Briefkasten liegt, ca. drei Wochen vergehen. Aber zum momentan alles dominierenden Thema gibt es auch Allgemeingültiges zu sagen.

Kaum hatten wir das Gefühl, den coronabedingten Ausnahmezustand – zumindest für dieses Frühjahr und den Sommer – überwunden zu haben, überfiel Putin die Ukraine. Mit den wachsenden Sorgen um die Situation in Europa werden wir nun täglich in unseren Praxen, zusätzlich zu der Betreuung unserer Patienten, konfrontiert. Für viele unserer Patientinnen und Patienten stellen wir nach wie vor eine moralische Instanz dar, auch wenn wir uns dessen oft gar nicht bewusst sind. Die derzeit am meisten interessierende und bewegende Frage, jene nach den Waffenlieferungen in die Ukraine, wurde in den beiden medienwirksam publizierten Offenen Briefen an den Bundeskanzler von Anfang Mai thematisiert. Den Inhalt dieser Briefe werden Sie sicher kennen.

Wenn auch der absolute und beständig anwachsende Großteil unserer Patienten sich eine deutlich zurückhaltendere Handlungsweise, als sie derzeit von unseren Politikerinnen und Politikern betrieben wird, wünscht, so haben beide Argumente bezüglich der Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet mit Sicherheit hehre Absichten: sei es zur Verteidigung der demokratischen Freiheit in Europa oder sei es, das Leben der Bevölkerung dieses Kontinentes um jeden Preis zu schützen.

Ein wesentlicher Punkt der Diskussionen ist der Konflikt Moralethik vs. Verantwortungsethik. Natürlich wäre es moralisch richtig, einem in Bedrängnis geratenen, hier mit einem militärischen Angriff überfallenen, Land beizustehen, auch militärisch.  Ethisch verantwortliches Handeln bedeutet allerdings auch, zu bedenken, was die Folgen für eine ungleich größere Zahl von Menschen sein könnten oder werden und, ob dies in der Abwägung vertretbar ist.

Was allen bisherigen Konflikten – denken wir an die endlosen Debatten über Corona, die Sterbehilfe oder die nach wie vor nicht gelöste Gesetzgebung für Organspenden (Widerspruchslösung) – und dem derzeitigen, alles übertreffenden, innewohnt, ist die Verbitterung, mit der die Diskussionen in Deutschland geführt werden. Eine Streitkultur ist immer seltener vorhanden, und dass man sich auch mal eine zunächst gegenteilige Position verinnerlicht und bereit ist, sich von dieser im günstigsten Fall auch überzeugen zu lassen, ist mittlerweile fast undenkbar. Dass einander widersprechen, und trotzdem den Gesprächspartner achten kann, beweist beispielhaft einer der erfolgreichsten Podcasts Deutschlands „Lanz & Precht“.

Natürlich wird es schwerer, sich in einer immer komplexeren Welt zu entscheiden. Dank der medialen Vielfalt sind beständig neue, oft widersprüchliche, häufig nicht mehr nachprüfbare Nachrichten zu vernehmen. Das gilt für jeden Bürger, aber auch für die für die Gesellschaft Verantwortlichen. Immer wieder werden wir aber auch auf eine generelle Frage gestoßen: Nehmen unsere gewählten Politiker ausreichend Ratschläge von Fachleuten an? Oder sind es mitunter auch Bauchentscheidungen oder Voten aus einer Gruppendynamik heraus, vielleicht auch aus einem Fraktionszwang? Können Politiker aber nicht auch häufiger Fehler zugeben bzw. sich erst nach ausreichender Beratung eine Meinung bilden?

Realitätssinn ist in jedem Fall geboten, besonders auch in Bezug auf (wissentlich?) geschaffene Abhängigkeiten. Das gilt natürlich besonders in dem aktuellen Konflikt, aber auch an anderer Stelle, nicht zuletzt auch bei der medizinischen Versorgung.

Sicher ist es nachteilig, wenn die europäische Wirtschaft unter Lieferengpässen infolge der irren Corona-Politik Chinas leidet, aber das kann man (wenn man es will) noch unter Kollateralschäden der ansonsten doch positiven Globalisierung buchen. Allerdings wird es existenziell, wenn z. B. lebenswichtige Arzneimittel betroffen sind. Ein Konflikt mit Indien könnte diesbezüglich schwerste Auswirkungen haben. Gewarnt wurde hier mittlerweile ausreichend oft.

Auch innerhalb Deutschlands wurden und werden noch zunehmend in der medizinischen Versorgung nicht so einfach korrigierbare Abhängigkeiten geschaffen. Die Kommerzialisierung erst der stationären und jetzt auch der ambulanten Versorgung schafft Abhängigkeiten von in- und ausländischen Kapitalinteressen, die die Politik nicht zur Kenntnis nehmen will, weil doch die profitgetriebenen Einrichtungen angeblich effizienter seien. Vielleicht können sie finanziell effizienter sein, aber sicher nicht immer  im Interesse der Patienten. Wenn sich hier dann die Folgen zeigen (was heute schon erkennbar ist), wird lamentiert werden, das habe man alles ja nicht ahnen können und nun seien die Abhängigkeiten eben halt da.

Sollten sich gerade Fachleute, auch wir als Ärztinnen und Ärzte, nicht verstärkt in die Politik einbringen, wenn es unser Gebiet oder aber Überlebensentscheidungen, wie derzeit, anbelangt?

Bezüglich des Mangels an Streitkultur gibt es auch einen Zusammenhang mit dem offensichtlichen Versagen der Diplomatie im Ukrainekonflikt. Kompromissloses Beharren auf einem Standpunkt richtet hier noch viel mehr Schaden an, als „nur“ das Auseinanderdriften der Gesellschaft in Deutschland. Es hätte gelingen müssen, dass aus dem Gegner nicht ein kompromissloser Feind wird! Die Gefahr eines Atomkrieges steht in keinem Verhältnis zu anderen Dingen.

Alle Entscheidungsträger, die in irgendeiner Form dazu beitragen können, wären auch heute noch sehr gut beraten, bis zum letzten Moment um eine diplomatische Lösung (auch wenn diese unter moralethischen Gesichtspunkten bei einem zu verurteilendem Angriffskrieg sehr schwer akzeptabel sein mag) zu kämpfen, um wieder einen Frieden zu erreichen.

Dass Deutschland den ukrainischen Menschen hilft, ist eine humanitäre Verpflichtung und selbstverständlich. Auch viele Kolleginnen und Kollegen in Sachsen haben in den letzten Wochen Außergewöhnliches geleistet, um die schlimmste Not zu lindern. Dafür sei Ihnen der allerherzlichste Dank und die Hochachtung ausgesprochen! Die Organisation von Seiten der staatlichen Stellen muss jedoch dringendst verbessert werden. Warum zum Beispiel nach drei Monaten die nach Deutschland geflüchteten Ärztinnen und Ärzte bisher noch nicht die Genehmigung erhalten haben, ihre Landsleute hier zu behandeln, ist niemandem auch nur ansatzweise zu vermitteln.

Dass das Wichtigste im Leben die Gesundheit ist, war und ist jedem von uns als Ärztin oder Arzt zeitlebens bewusst. Aber wie fragil das Konstrukt um Gesundheit und Frieden für ganz Europa und die Welt ist, haben wir alle oft verdrängt. Tun wir alles, um dies wieder zu einem allgegenwärtigen Zustand werden zu lassen.

In diesem Sinne seien Sie herzlich gegrüßt.

 

Ihr Frank Rohrwacher