Einrichtungsbezogene Impfpflicht im Gesundheitswesen und allgemeinen Impfpflicht - zwei diskutierte Themen in der Politik, den Medien und der Gesellschaft

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht im Gesundheitswesen sowie der allgemeinen Impfpflicht werden derzeit zwei Themen in der Politik, den Medien und der Gesellschaft diskutiert, welche „folgerichtig“ die nächsten Schritte auf dem Weg zu einer erfolgreichen Bekämpfung der Pandemie zu sein scheinen. Aber dieser Schein trügt aus mehreren Gründen und lässt vermuten, dass vor allem Aktionismus die Hauptmotivation für diese Vorhaben ist.

Es ist angebracht zu erwähnen, dass dieser Artikel am 26. Januar 2022 verfasst ist und nicht sicher gesagt werden kann, ob nicht einiges bis zum Erscheinungsdatum schon wieder überholt ist.

Eine Impfpflicht ist – egal wen sie betrifft – ein erheblicher Grundrechtseingriff und kann nur dann in Frage kommen, wenn die Verhältnismäßigkeit gegeben ist. Das bedeutet, dass die staatliche Maßnahme

  • einen legitimen Zweck verfolgt,

  • geeignet,

  • erforderlich

  • und angemessen ist.

 Legitimer Zweck kann in diesem Zusammenhang allerdings nur sein:

  • Vermeidung von schwerer Krankheit bzw. Tod für Menschen, die sich nicht anders bzw. selbst vor einer lebensbedrohlichen Infektion schützen können.

  • Schutz des Gesundheitssystems vor – tatsächlicher! – Überforderung

Die Schutzbedürftigen hatten mittlerweile bzw. haben die Möglichkeit, den maximal durch Impfungen erreichbaren Schutz zu erhalten (und dieser ist nach der Meinung der Experten durch die Impfung zumindest bzgl. schwerer Erkrankungen und Tod auch gegeben). Absolute Kontraindikationen gegen die Impfung – in Abwägung zur Indikation – gibt es für die vulnerablen Gruppen praktisch keine. Allerdings gibt es Patienten, die aufgrund erwartbarer Immundefizienz nicht ausreichend auf die Impfung reagieren. Diesen wenigen Patienten kann jedoch durch entsprechende Absonderung oder ausschließlicher Betreuung durch Geimpfte Rechnung getragen werden.

Eine Überforderung des Gesundheitssystems ist – auch unter der Hochrechnung der Erfahrungen anderer Länder mit der Omikron-Variante – momentan nicht absehbar. Auf der anderen Seite hat sich mittlerweile herausgestellt, dass die Impfung keinen Fremdschutz darstellt, allerdings sehr wohl einen Eigenschutz für die vulnerablen Gruppen (wozu mindestens alle über 50-jährigen zu zählen sind), die ich an dieser Stelle nochmals zur Impfung auffordern möchte. Das bedeutet, dass Angehörige der vulnerablen Gruppen, wenn sie sich nicht impfen lassen, fahrlässig gegenüber ihrer eigenen Gesundheit handeln (ebenso wie z. B. Raucher) bzw. liberaler ausgedrückt, eine (hoffentlich informierte) freie – riskante – Entscheidung treffen. Andererseits darf natürlich nicht ignoriert werden, dass die Impfung (besonders für Jüngere) nach den bisherigen Erfahrungen nicht völlig nebenwirkungsfrei ist.

Damit wäre eine Impfpflicht (auch eine einrichtungsbezogene) momentan aus medizinischer und gesellschaftlicher Sicht zweifellos nicht verhältnismäßig.

Möglicherweise erwarten Sie jetzt, dass ich mich generell und ausnahmslos klar gegen eine Impfpflicht positioniere. Das werde ich jedoch nicht tun und möchte es auch im Folgenden begründen. Ein wesentlicher Fehler der bisherigen Corona-Politik bestand sicher in den häufig absoluten Aussagen, bei denen man manchmal auch das Gefühl hatte, sie wurden umso vehementer vertreten, je unsicherer man sich eigentlich war. Es ist jedoch keinesfalls klug, zu irgendeinem Zeitpunkt in der Pandemie auch nur das Gefühl zu vermitteln, man könne eine halbwegs sichere Prognose für einen längeren Zeitpunkt abgeben.

Ich selbst bin diesbezüglich auch ein wenig ein „gebranntes Kind“, hatte ich doch an dieser Stelle vor zehn Monaten versucht, einen gewissen Optimismus zu verbreiten, der allerdings hauptsächlich dem Vertrauen auf die gute Wirksamkeit der Impfstoffe entsprang.

Noch deutlicher kann man die Unsicherheit von Prognosen veranschaulichen, wenn man sich gedanklich einmal ein bzw. zwei Jahre zurückversetzt. Heute vor einem Jahr wäre es völlig absurd gewesen, an eine Impfpflicht nur zu denken, bzw. diese gar zu äußern. Anfang des vorletzten Jahres war das Thema Corona noch gar nicht bekannt. Niemand weiß zum heutigen Zeitpunkt sicher, wie sich die Pandemie weiter entwickelt. Ob sie – was manche heute schon meinen – bald nur noch eine Endemie ist und uns in einem Jahr nur noch genauso viel oder wenig beschäftigt wie die üblichen saisonalen Grippewellen. Auf der anderen Seite gibt es zumindest gedanklich den Worst Case, dass eine neue Variante auftreten könnte, die die Infektiosität von Omikron mit der Letalität von Ebola verbindet (dann wäre die Impfpflicht absolut geboten, das Problem wären dann aber wohl eher die „Impfdrängler“). Natürlich ist die „Ebola“-Variante äußerst unwahrscheinlich, aber eben nicht undenkbar (wer hätte vor zweieinhalb Jahren geglaubt, dass die ganze Welt jetzt ihr Leben zu einem ganz großen Teil einer Pandemie unterordnet?). Deshalb ist es in der Pandemie einmal wirklich richtig „auf Sicht“ zu fahren. Das meint aber keinesfalls, dass im Wochenrhythmus ständig neue Regelungen verordnet und durchgedrückt werden.

Interessant ist ja, dass jetzt nach fast zwei Jahren erstmals der verantwortliche Umgang jedes Einzelnen mit der Pandemie in den Vordergrund gestellt wird. Allerdings geschieht dies leider nur, weil ganz offensichtlich das bisherige Management nicht mehr durchgehalten werden kann.

Ich halte es für erforderlich, an dieser Stelle noch auf die eher unerfreuliche Thematik der Corona-Leugner und der Impfgegner unter den Ärzten einzugehen.

„Corona-Leugner“ ist mittlerweile ja eher ein politischer Kampfbegriff geworden. Natürlich gibt es dies trotzdem, allerdings unter Ärzten sicher nur in verschwindend geringer Zahl. Und man darf auch Corona leugnen, ebenso dass die Erde eine Kugel ist. Die Impfgegner unter den Ärzten sind hierbei sicher das größere Problem, wobei es allerdings die jegliche Impfung ablehnenden Ärzte schon länger gibt und dies – leider – weder zulassungs- noch approbationsschädlich ist. Etwas anders verhält es sich mit den coronaspezifisch impfskeptischen Ärzten. Diese sollte man keinesfalls generell an den Pranger stellen. Denn es muss selbstverständlich sein, dass jeder Bürger in unserer Demokratie und damit natürlich auch jeder Arzt das Recht hat, eine Minderheitenmeinung zu vertreten. Diese jedoch offensiv den Patienten gegenüber zu kommunizieren und gegenüber Impfwilligen vehement gegen die Impfung zu agitieren halte ich für – vorsichtig ausgedrückt – grenzwertig. Gegenseitige Schuldzuweisungen und wenig sachliche „Argumentationen“ sind generell niemals zielführend. Schließlich müssen alle auch in einer Zeit nach Corona wieder miteinander arbeiten und leben können. Dafür ist es auch erforderlich, dass die Grundprinzipien einer liberalen Demokratie nicht verletzt werden, welche sowohl die Mehrheitsentscheidung als auch den Minderheitenschutz umfassen.

Als höchst problematisch sehe ich dennoch Ärzte, die eine Impfung ihrer Patienten generell verweigern und mit der Corona-Schutzimpfung die Strafbarkeit einer Körperverletzung verwirklicht sehen. Solche Äußerungen verunsichern nicht nur die Patienten, sondern tragen zu einer Spaltung der Ärzteschaft und der Gesellschaft bei, was gerade in dieser angespannten Pandemielage vermieden werden sollte. Hier haben die Ärzte nach meiner Auffassung mit ihrem Beruf auch eine besondere Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Darüber hinaus werden die Kolleginnen und Kollegen diffamiert, die sich täglich mit großem Einsatz um die Corona-Patienten kümmern und die Impfkampagne unterstützen.

Zum Abschluss möchte ich aber noch einmal auf die Impfpflicht und das gesamte Corona-Management zurückkommen. Ist auch Ihnen aufgefallen, dass die Kritik an Anders Tegnells schwedischem Weg des Appells an die Eigenverantwortung mittlerweile verstummt ist? Ich habe jetzt gerade eine Assoziation zu der eigentlichen Schlüsselszene in John Steinbecks Roman „Jenseits von Eden“, in der Adams und der Chinese Lee über die Bibel philosophieren. Lee hat Zweifel an der richtigen Übersetzung der alttestamentarischen zehn Gebote und hat deshalb Hebräisch gelernt. In der Folge ist er der Meinung, dass die Übersetzung „Du sollst (nicht)“ nicht unbedingt die richtige ist, da das hebräische Wort „timschal“ auch die Bedeutung hat „Du kannst“ und damit die Gebote (= Vorgaben, Gesetze) zu einer Aufforderung würden, also die Möglichkeit des Menschen, ohne Zwang gut (moralisch, verantwortungsvoll) zu handeln, beschreiben. Auf unsere aktuelle Coronaproblematik bezogen heißt das, dass es schon auch die Alternative gibt, an das verantwortliche Handeln der Bevölkerung zu appellieren. Vielleicht besteht auch bei uns noch die Möglichkeit, dass man diesbezüglich politisch noch einen kompletten Spurwechsel vornimmt. Falls dies geschehen sollte, sind die Ärzte natürlich auch wieder besonders gefordert, aber ich glaube, sehr viele von Ihnen würden sich in einer solchen Situation deutlich wohler fühlen.

Mit der Bitte an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, daran mitzuwirken, verbleibe ich

mit freundlichen kollegialen Grüßen

 

Ihr Klaus Heckemann