Aber kann man Gerechtigkeit berechnen?

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wenn die Jahre wechseln ist es üblich, auf das Geschehen des vergangenen Jahres resümierend zurückzublicken und aus der Bilanz abgeleitet Pläne für das beginnende Kalenderjahr zu schmieden. Diesen Prozess gestaltet jeder Mensch in unterschiedlicher Intensität und individuell für die wichtigsten Bereiche seines Lebens – vom privaten über den beruflichen zum soziokulturellen Sektor. Auch in den Standesorganisationen und beruflichen Vereinigungen findet dieses Prozedere seinen Widerhall.

Umgemünzt auf die Berufspolitik der niedergelassenen sächsischen Vertragsärzte möchte ich Ihnen in meinem heutigen Standpunkt anlässlich des Inkrafttretens des neuen Honorarverteilungsmaßstabes (HVM) der KV Sachsen zum 1. Januar 2022 ein paar Denkanstöße zu Transparenz und Honorargerechtigkeit im KV-System mit auf den Weg ins neue Arbeitsjahr geben. Die Details des neuen HVM können auf der Internetpräsenz der KV Sachsen nachgelesen werden. Mir geht es zunächst nicht um die handwerkliche Arbeit der HVM-Konstrukteure, sondern um die nach kritischer Analyse des Ist-Zustandes abgeleiteten Konsequenzen für die Zukunft, die Intention zur Neujustierung und den Prozess von der Entscheidungsvorbereitung bis zur Abstimmung in der Vertreterversammlung der KV.

Allgemein bekannt sein dürfte, dass von den sächsischen Krankenkassen quartalsweise die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung (MGV) mit befreiender Wirkung überwiesen und dann seitens der KV nach dem jeweils gültigen, im Benehmen mit den Krankenkassen verabschiedeten HVM an die Vertragsärzte aufgeteilt wird. Berufspolitisches Ziel dabei ist die möglichst gerechte leistungsbezogene Aufteilung zwischen und in den Fachgruppen. Gleichzeitig müssen die Vorgaben erfüllt werden, welche die jeweils aktuelle Gesundheitspolitik, z. B. bei einer Pandemie, einfordert, ohne an die Folgen für die Honorargerechtigkeit zu denken.

Rückblickend war die rasche Einführung des Not-HVM mit Ausgleichszahlungen und speziellen Förderungen am Beginn der Pandemie durchaus richtig und für manche Praxis sogar überlebenswichtig. Zwischenzeitlich hat die Beibehaltung zu immer mehr kritischen Stimmen geführt, weil der Leistungsfaktor im Honorarsystem nicht mehr realistisch abgebildet wurde. Längerfristig angelegte Analysen zeigten Defizite auf, die durch die Umsetzung des TSVG (Terminservice- und Versorgungsgesetz) unseres ehemaligen, und – was Gesetze betrifft – überaktiven, Ministers Spahn entstanden sind.

Durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz wurden 2011 die Praxisbudgets durch Regelleistungsvolumina ersetzt. RLV- und QZV-Mitteilungen gehören seitdem zum unbeliebtesten Teil des Posteingangs, weil man jedes Mal daran erinnert wird, dass ein Teil unserer erbrachten Leistungen nicht honoriert werden kann. Auch dort hat sich inzwischen Handlungsbedarf entwickelt.

Die Idealvorstellung wäre natürlich, wie einst bei der Steuererklärung gefordert, dass der HVM auf einem Bierdeckel Platz finden könnte. Gleichzeitig muss er transparent sein und von allen als gerecht empfunden werden.

In der Realität unterliegt das Verfahren dem Sozialgesetzbuch V und kann jederzeit dort nachgelesen werden. Insofern bleibt in Einhaltung der Gesetzeslage und unter den Augen unserer Aufsichtsbehörde, des Sächsischen Ministeriums für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, nur der beschwerliche und vielen intransparent erscheinende Weg über komplizierte mathematische Modelle, die gewünschten Intentionen zur Honorargerechtigkeit mit den Bedingungen des Regelwerkes in Kongruenz zu bringen.

Nach eigener Einsicht über viele Jahre meine ich, dass möglicherweise selbst ein Absolvent des Leistungskurses Mathematik die Berechnungsgrundlagen und Formeln hinter den Zahlen des HVM schwerlich ad hoc überprüfen könnte. Ich denke, im Vertrauen auf die langjährig loyal im Dienst der KV Sachsen tätigen Fachleute dürfen wir weiter auf deren Seriosität und Berufserfahrung bauen und ich möchte an dieser Stelle explizit Lob und Anerkennung für die jahrzehntelange Arbeit zollen. Wir sprechen zwar stets von ärztlicher Selbstverwaltung, doch ohne die Spezialisten im Hintergrund und außerhalb des Rampenlichtes wären wir in den 30 Jahren des Bestehens der KV Sachsen nicht in der Lage gewesen, allen Anforderungen gerecht zu werden.
Liegen die in Auftrag gegebenen Berechnungen für einen neuen HVM vor, erfolgt dann in ausführlicher Diskussion mit dem Hauptausschuss, den Bezirksgeschäftsstellen, den Mitgliedern der Vertreterversammlung und ggf. auch in Klausurtagungen die weitere Bearbeitung bis zur Beschlussfassung, die als demokratische Abstimmung durch die von Ihnen gewählten Vertreter erfolgt. Insofern ist der Prozessablauf vollkommen transparent. Das zu beobachtende Unbehagen liegt wohl eher in dem Gefühl, dass die Intention zu mehr Honorargerechtigkeit in großen Teilen über Rechenvorgänge umgesetzt wird und die Klarheit der Bierdeckelvariante vermisst wird. Absolute Gerechtigkeit lässt sich vermutlich nicht errechnen und die von einigen gefühlte Gerechtigkeitslücke entsteht meines Erachtens durch die Differenz zwischen erwartetem und errechnetem Ergebnis. Mit Inkrafttreten des am 8. Dezember 2021 von der Vertreterversammlung beschlossenen neuen HVM dürfen Sie allerdings deutliche Nachbesserungen und teilweise auch Vereinfachungen erwarten, welche die Nachvollziehbarkeit verbessern und den Einstieg in weitere Anpassungen entsprechend einem Konvergenzmodell darstellen.

In der Historie der Weiterentwicklung des HVM innerhalb der KV Sachsen hat es die Vertreterversammlung der KV bisher stets geschafft, konsensual zu handeln und die Gemeinsamkeiten zu Beschlüssen zu bündeln. Der Konsens als lösungsorientiertes Arbeitswerkzeug schafft allemal perspektivisch ein besseres Klima als der erzwungene Kompromiss, der bekanntlich nur Unzufriedene zurücklässt. Auch wenn der Zuwachs von circa 20 Millionen Euro in der MGV 2022 nicht ausreichen wird, um flächendeckend allen Kassenärzten höhere Honorare auszahlen zu können, ist ein wichtiger Schritt zu noch mehr Honorargerechtigkeit eingeleitet worden. Darüber hinaus ist zu hoffen, dass die Anträge auf Einpreisung der steigenden Personalkosten für MFAs und der Kosten der Digitalisierung 2022 in Berlin beim neuernannten Minister Lauterbach mehr als beim bisherigen Gehör finden und die Gesamtvergütung entsprechend angepasst wird.

Ungeachtet der Tatsache, dass ich in den zurückliegenden Legislaturen nicht den Eindruck hatte, dass Fachgruppenlobbyismus in der KV zur Beeinflussung von Weichenstellungen und Beschlüssen geführt hat, möchte ich den Jahreswechsel mit den 2022 bevorstehenden Wahlen zur nächsten Vertreterversammlung nutzen, um darauf hinzuweisen, dass jedes Mitglied der KV durch eigene Kandidatur und/oder Wahlentscheidung an der nach Alter, Geschlecht, Region und Fachgebiet möglichst repräsentativen Zusammensetzung der nächsten Vertreterversammlung mitwirken kann. Denn dort werden die Entscheidungen gefällt, die zur Bewältigung zukünftiger Herausforderungen nötig sind. Und gegen einen Zugewinn an Honorargerechtigkeit durch optimierte Lösungen und neue Ideen hätte sicher niemand etwas einzuwenden. Wie Shakespeare schon schrieb: Den besseren Gründen müssten dann gute weichen!

Neues Jahr, neues Glück, hört man die Leute oft sagen, wenn Zuversicht über Missmut gesiegt hat und Optimismus zum Wegbegleiter durch ein neues Jahr werden möge. Es wird auch behauptet, man könne Glück schmieden, wenn man handwerklich begabt ist. Damit die gerechte Honorarverteilung aber nicht Glückssache bleibt, begrüße ich die Initiative von Vorstand und VV als überfälligen Schritt zur Bewahrung der innerärztlichen Solidarität und unverzichtbaren Beitrag zum perspektivischen Zusammenhalt aller unter dem Dach der KV Sachsen vereinten Fachgruppen.

Mit dem Dank für Ihr Engagement 2021 verbinde ich die Hoffnung auf ein weiteres konstruktives, kraftvolles Miteinander im KV-Wahljahr 2022.

Ihr Johannes-Georg Schulz