"Ich will das doch alles gern anwenden, aber es muss funktionieren und darf weder Zeit noch Nerven rauben!"

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Bundeskanzler Scholz sprach von einer „Zeitenwende“. Ob dies so zutrifft, darüber werden Historiker urteilen. Aber eine Zäsur in unser aller Leben ist der Krieg in der Ukraine zweifelsfrei. Die Kriegsfolgen treffen uns alle, kurz-, mittel- und langfristig.

Dabei scheint mir der Krieg in der Ukraine wie ein Brennglas zu wirken. Ganz deutlich und mit aller Wucht treten nun die Themen in den Vordergrund und in das Bewusstsein, die schon vor Kriegsausbruch dringend lösungsrelevant waren – Inflation, Energieversorgung, Nahrungsmittelkrise, demographische Entwicklung, Überschuldung, wackelige Sicherheitsarchitektur, Globalisierung, Handelsketten, Klima etc. Jetzt sind tragfähige Lösungsansätze und konzertiertes Handeln drängender und dringender denn je. Der Zwang zum Handeln auf fast allen Ebenen ist augenscheinlich.

Auch das Gesundheitssystem wird davon betroffen sein. Die mittelfristigen, insbesondere die finanziellen, Rahmenbedingungen lassen keinen anderen Schluss zu.

Wir reden in Deutschland seit Jahrzehnten über die Probleme in unserem Gesundheitssystem. Ein Gesetz jagt das andere. Aber die Grundfragen der Finanzierung, der Versorgungsstrukturierung und des Leistungsspektrums schieben wir, farblich nur etwas anders angemalt, von Koalitionsvertrag zu Koalitionsvertrag, von einer Kommission zur anderen, von einem Expertengremium zum nächsten. Reparaturen, Flicken, aber kein großes Ganzes. Es gibt Gesetze zum Bürokratieabbau etc., aber die Bürokratie wird immer mehr.

Die Regelungen werden immer umfassender, detailversessener und sind oft nur mit fachfremdem Rat und Hilfe zu verstehen und umzusetzen. Die Zeit am Patienten wird weniger statt mehr. Das Dokumentieren etc. hat ein Ausmaß erreicht, dass es sich quasi selbst perpetuiert. Es gibt für alle diese Regelungen immer eine Begründung. Das aber nützt nichts, da das Endergebnis wenigstens dysfunktional ist, oft geradezu sinnlos. Im alten Rom wurden Gesetze, deren Ineffizienz sich erwiesen hatte, im Senat abgeschafft. Wir machen es besser. Wir erlassen mindestens zwei weitere Gesetze in Ergänzung und Fortführung des ersten. Die Zahl der Kontrolleure wird so irgendwann die Anzahl der zu Kontrollierenden übersteigen. Nur, wer macht dann die Arbeit?

Warum schafft es ein so großes und doch entwickeltes Land wie Deutschland, immerhin wirtschaftlich ganz erfolgreich, nicht, die Digitalisierung im Gesundheitssystem so zu gestalten, dass sie wenigstens funktioniert, und bitte für analoge Durchschnittshirne wie meines einfach handhabbar ist? Und so, dass sie Ärzten, Therapeuten, dem medizinischen Personal und den Patienten wirklich nützt? Wenn ich eine eAU versende, bekomme ich jedes Mal Wut. Der Rechner nuddelt und nuddelt, bis der Schein bei der Krankenkasse angekommen ist. Der Rechner ist aber blockiert, ich kann nicht schon den nächsten Patienten aufrufen. Was sollen erst die Kolleginnen und Kollegen sagen, die eine schlechte Internetanbindung haben? Mir graut davor, die Segnungen der gematik demnächst in toto erleben zu dürfen. Denn mit den anderen Anwendungen dürfte der Zeitaufwand weiter steigen. Warum brauchen wir Arztausweis und ein ganzes Arsenal von irgendwelchen Karten, damit das Ganze läuft? Wie peinlich und blamabel ist es denn, dass neue Lesegeräte streiken, wenn neue Chipkarten eingelesen werden, und dann das System abstürzt? Dann irgendwelche halbgewalkten Hinweise, wie man das Problem beheben kann. Und technische Notlösungen, die ein bisschen albern sind. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Wie es jetzt läuft, das ist demotivierend. Abgesehen davon, decken die Erstattungsbeträge eben nicht die Kosten! Ich will das doch alles gern anwenden, aber es muss funktionieren und darf weder Zeit noch Nerven rauben!

Herr Minister Lauterbach hat ja nun angekündigt, die Anwender von vornherein einbeziehen zu wollen. Insoweit hatte das Agieren der KBV Erfolg. Diese Erkenntnis wäre sicherlich eher gereift, wenn wir nicht einen ausufernden Regelungsüberbau und ineffiziente Strukturen hätten. Warum schaffen es Australien, das Baltikum und viele andere Länder, die Digitalisierung im Gesundheitssystem zum Erfolg zu führen? Wohl auch deshalb, weil deren Systeme nicht so wie das unsere mit Gesellschaften, Institutionen, Behörden, Kommissionen etc. etc. überfrachtet sind. Der deutsche Hang zum Perfektionismus, bürokratischen Gigantismus und sinnentleerten Regelungswahn verhindert klare, verständliche Abläufe in Konzeption, Entscheidungsfindung und Umsetzung.

Die gematik verhindert Digitalisierung. Das sagte eine Leipziger Ärztin, Gesundheitspolitikerin und Mitglied des Bundestages kürzlich auf einer Podiumsdiskussion beim Sächsischen Ärztetag. Recht hat sie. Sie sagte beim Thema Selbstverwaltung, dass diese zu umständlich sei und alles zu lange dauere. Auch da hat sie Recht. Schade nur, dass sie nicht erwähnte oder es tatsächlich nicht bedachte, dass die Selbstverwaltung sich gerade im Rahmen dieser hyperkomplexen und teils ins Absurde laufenden Regelungen und Gesetze bewegen muss, die die Politik beschließt.

Ich wünsche mir, wenn es schon eine gesellschaftliche Zeitenwende geben mag, bedingt auch durch diesen schrecklichen Krieg – und der Preis ist sehr, sehr hoch, das Leid der Betroffenen kaum vorstellbar – dass wir aus der Not heraus nun endlich handeln, auch was das Gesundheitssystem betrifft: vom Kopf auf die Füße stellen, primär den Nutzen für die Anwender im Blick haben, Behörden, Institute etc. abspecken. Es wäre besser, manches entfiele ersatzlos. Das wäre auch eine „Zeitenwende“ – oder eher eine Wende im Herangehen.

Ihr Stefan Windau