„Anfassen ist simpel – Berühren ist Kunst.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

was ist Fingerspitzengefühl? Auf www.wictionary.de findet man dazu Folgendes:

[1] figurativ: feines Gespür dafür, wie man sich jemandem gegenüber verhalten oder ausdrücken sollte, sodass dieser nicht verletzt, vor den Kopf gestoßen oder brüskiert wird

[2] Gefühl in den Fingerspitzen, fähig, kleine oder empfindliche Dinge sehr sorgfältig zu behandeln und seine Kraft richtig zu dosieren; wichtig beispielsweise bei Montagen, Reparaturen, etc.

Der Duden gibt folgendermaßen Auskunft:

Berührung:

  • das Berühren, Anrühren – Anfassen

  • gesellschaftlicher, kultureller, menschlicher Kontakt

  • Erwähnung

„Es könnte alles so einfach sein, isses aber nicht“ haben die Fantastischen Vier in ihrem Lied „Einfach sein“ schon 2007 gesungen.

Während der eine bei Fingerspitzengefühl eher Karl Heinz Karius folgt: „Für Geldgeschäfte braucht es Fingerspitzengefühl. Speziell zwischen Daumen und Zeigefinger.“ haben die anderen eher die Assoziationen des Psychologen Prof. Martin Grunwald, Leiter des Haptik-Labors der Universität Leipzig, gegenüber dem Wissenschaftsmagazin GEO im Kopf: „Es gibt kein Säugetier, das sich ohne Berührung adäquat entwickelt. Es überlebt den Mangel an Kontakt nicht.“

Und wieder andere verbinden nichts mit diesen Worten.

Jedoch – berührende Rituale sind seit Jahrtausenden bekannt. Segnungen, Ritterschläge, Taufen – alles Berührungen. Nicht immer liebevoll, aber doch ein Kontakt. Spontane Selbstberührungen – wir fassen uns am Tag ca. 400 bis 800 Mal unbewusst ins Gesicht – führen in großen Stresssituationen, ob Freude oder Trauer, laut Prof. Grunwald offenbar zu einer neurobiologischen Homöostase. Wir gehen, und das nicht erst seit Corona, mit unseren Berührungen immer sparsamer um. Ein Umstand, den die sogenannte Berührungsindustrie auszunutzen weiß. Doch wollen wir dieses Feld tatsächlich aufgeben?

Selbst auf die Gefahr hin, nun etwas dermatologenlastig zu werden, soll es heute um das Berühren – am besten natürlich mit Fingerspitzengefühl – gehen. 2016 hat der Berufsverband der Dermatologen eine Kampagne gestartet „Bitte berühren“. Hier ging es darum, sich mehr mit der Psoriasis, ihren Auswirkungen auf die Betroffenen und auf den häufig durch Unwissen getriggerten Ekel vor geschädigter Haut zu beschäftigen und den Menschen die Angst vor der Erkrankung und vor der Berührung der Betroffenen zu nehmen.

Seit 2021 gilt diese Kampagne auch der Neurodermitis – weil auch Ekzemhaut für viele Menschen als problematisch erfasst wird. Für die Betroffenen ist die Kampagne wichtig und hilfreich, hilft sie doch, die Angst zu nehmen. Wir Dermatologen waren anfangs jedoch ob dieser Bitte irritiert, denn Fach und Organ „leben“ vom Berühren, vom „dritten Auge im Finger“.

Wie einst ein grandioser internistischer Oberarzt zwingend eine Geruchsprobe von allem erwartete, hat hoffentlich jede Fachgruppe Selbstverständlichkeiten in der Arbeitshaltung, die für andere manchmal irritierend, schlimmstenfalls abstoßend wirken. Ja, es wäre wünschenswert, die „Fingerübungen“ der anderen wenn schon nicht nachzuahmen, so doch zumindest verstehen und kennen zu wollen, denn das würde uns und unseren Patientinnen und Patienten respektive auch unseren Kolleginnen und Kollegen das Leben erleichtern.

Natürlich gibt es – wie überall – feine und grobe Nuancen, mit denen das Fingerspitzengefühl angewendet werden kann. Und doch ist es traurig, wenn der Patient berichtet, dass wir, seine Behandelnden, seit langer Zeit die ersten sind, die ihn oder sie angefasst haben, und das günstigenfalls nicht mit Lagerungsgriff, sondern Einfühlungsvermögen. Dass Menschen aufblühen, wenn man sie berührt, gleichwohl sie weder zum Freundes- noch zum Familienkreis gehören, haben die meisten von uns schon im vorpraktischen Jahr oder Pflegepraktikum erlebt. Das Eincremen oder Abtrocknen nach der Körperpflege wurde zum Highlight, und manchem wurde der Tag leichter.

Wir wissen aus vielen Studien – z. B. der aus dem Jahr 2013 von der American Heart Association – wie wichtig Berührungen für fast jeden sind. Schon Tiere streicheln ist blutdrucksenkend für beide Seiten, Oxytocin wird ausgeschüttet – und hohe Oxytocinspiegel bedingen eine höhere Empathie.

Ähnliche Ergebnisse wurden sogar bei „hartschaligen“, also scheinbar nicht berührungssensitiven Tieren wie Schildkröten erreicht. Kurz: Die Berührung ist lebenswichtig. Selbst ein Händedruck ist nicht nur ein Zeichen, dass der andere ohne Waffen auf mich zutritt, sondern erlaubt dem Behandelnden schon die erste Beurteilung – ängstlich, schwitzend, kraftlos, schwach, aggressiv, zupackend. Ein Instrument, welches mir in den letzten Jahren tatsächlich sehr gefehlt hat und sich heute Dank suffizienter Desinfektionsmittel – oder, wer mag, auch mit Handschuhen – wieder gut einfügen lässt.

Jedoch werden Berührungen auch auf anderem Wege vermittelt: Ein gutes Gespräch, ein Buch, ein Artikel oder nicht zuletzt die Musik schaffen es immer wieder. Und dies häufig in deutlich mehr Facetten als ein physischer Kontakt es vermag. Ein Hautkontakt ist meist entweder angenehm oder unangenehm – die nichthaptische Berührung vermittelt uns Ärger, Wut, Trauer, Trost, Freude, Glück sowie eine ganze Bandbreite weiterer Empfindungen. Welche Art der Berührung intensiver ist, darüber darf diskutiert werden und wird es auch. Jeder, der wie ich einen Opernliebhaber und einen Heavy-Metal-Fan zu Hause hat, und diese leider nicht in einer Person, weiß, wovon ich hier schreibe. Gleichwohl sollten Berührungen in all ihren Bedeutungen ein Zeichen für Empathie und Zuwendung sein. Fingerspitzengefühl ist dafür unabdingbar und erleichtert uns das Miteinander. Oder, wie ein unbekannter Verfasser lakonisch bemerkte:

„Anfassen ist simpel – Berühren ist Kunst.“

Ich wünsche Ihnen von Herzen mehr Kunst im Leben und verbleibe mit freundlichen Grüßen

Ihre Grit Richter-Huhn