"Die Stellungnahme der Regierungskommision betrachtet immer nur das Angebot und niemals die Nachfrage" Axel Stelzner im Standpunkt

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

nach jeweils mehrjähriger Tätigkeit in der Notaufnahme eines Krankenhauses der Basisversorgung, als Notarzt sowie in einer Bereitschaftsdienstpraxis und im Fahrdienst der Kassenärztlichen Vereinigung ist auch für mich die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der medizinischen Notfallversorgung in Deutschland unbestritten. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Versorgung leisten Vertrags- sowie angestellte Ärztinnen und Ärzte. Deren Tätigkeit insgesamt muss laut SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Die „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ dagegen suggeriert mit den Vorschlägen in ihrer jüngst veröffentlichten vierten Stellungnahme zur „Reform der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland“ den Wählerinnen und Wählern noch stärker als bisher, aus dem Vollen schöpfen zu können. Selbst diese ahnen, dass das nur ein weiteres Beispiel ist für den politischen Populismus in diesem Land. Die dafür notwendige Dosis „panem et circenses“ steigt und steigt.

Der medhochzwei Verlag hat die 17 Kommissionsmitglieder hier vorgestellt. Unter ihnen sind fünf Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht bzw. Gesundheitsökonomie, welche doch besser wissen sollten, was wirtschaftlich ist. Dazu kommen drei Ärzte, unter ihnen der Leiter der Kommission – mit klinischem Schwerpunkt therapieresistente Depression –, ein „Seiteneinsteiger“ in das Thema Notfallversorgung.

„Integrierte Notfallzentren (INZ) sind in allen Krankenhäusern der erweiterten Notfallversorgung (Stufe 2; gut 260 Krankenhäuser in Deutschland) und umfassenden Notfallversorgung (Stufe 3; gut 160) aufzubauen. … Ein INZ besteht aus der Notaufnahme des Krankenhauses, einer KV-Notdienstpraxis im oder direkt am Krankenhaus und einer zentralen Ersteinschätzungsstelle („Tresen“). …

Vierte Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission

Solche gut funktionierenden räumlichen Strukturen gibt es doch außerhalb der Präsenzzeit größtenteils schon für Zeiten mit relevantem Patientenaufkommen, 420 Standorte in Deutschland bedeuteten grob gerechnet einen auf 200.000 Einwohner. In Sachsen liegt die Dichte jetzt schon in dieser Größenordnung. Für Patienten würde sich in der Regel nichts wirklich Spürbares ändern.

„Die KV-Notdienstpraxen in den INZ sind in Krankenhäusern der Notfallstufe 2 mindestens wie folgt zu öffnen: mo. bis fr. 14 bis 22 Uhr; sa., so., feiertags 9 bis 21 Uhr. In den Krankenhäusern der Notfallstufe 3 sind die KV-Notdienstpraxen in der Regel 24 / 7 zu betreiben.

Der aufsuchende KV-Bereitschaftsdienst bleibt erhalten und ist zu einem flächendeckenden 24 / 7-Angebot auszubauen, um auch immobile Patientinnen und Patienten mit akuten, aber nicht stationär behandlungsbedürftigen Krankheitsbildern zu versorgen und damit nicht erforderliche Transporte in ein INZ oder gar unnötige stationäre Aufnahmen zu vermeiden.“


Man könnte fast denken, dass bisher in den Praxen oder aus diesen heraus im Hausbesuch während der Präsenzzeit keine Notfallversorgung stattfindet, welche den gleichen Zweck erfüllt. Die unwirtschaftlichen zeitlichen Überschneidungen und die Ausdehnung auf Zeiten ohne relevantes Patientenaufkommen würden die verfügbaren, nicht nur ärztlichen(!), Ressourcen noch mehr überlasten als bisher. Substitution ärztlicher Leistung ist also auch kein Ausweg. Die Konsequenz wäre eine Vervielfachung der Dienstfrequenzen. In einem solchen System würden sich voraussichtlich ältere Kolleginnen und Kollegen, welche sonst länger gearbeitet hätten, eher in den Ruhestand verabschieden und jüngere von vornherein ausnahmslos nur noch in die Anstellung gehen, wo sie dann wenigstens das Arbeitsrecht schützt.

„Eine unmittelbare Erreichbarkeit beider Notfallnummern rund um die Uhr muss sichergestellt sein. Für Anrufe bei 112 bedeutet dies sofort, für Anrufe bei 116 117 maximal drei Minuten für > 75 % aller Anrufe und maximal zehn Minuten für > 95 % aller Anrufe. Letztgenanntes verhindert, dass Anrufende sich lediglich aufgrund zu langer Wartezeiten („Warteschleife“) an den Notruf 112 wenden. Die unmittelbare Erreichbarkeit des Notrufs 116 117 gehört zum Sicherstellungsauftrag der KVen. Geeignete Kontroll- und – bei Überschreiten der Wartezeitvorgaben – Sanktionsmechanismen sind einzuführen.“

In dieser Weise von sanktionsbehafteten Höchstwartezeiten zu schwadronieren, grenzt schon an Realitätsverweigerung. 

„Die Integrierten Leitstellen müssen so vorteilhaft und attraktiv sein, dass für die Bevölkerung ein großer Anreiz besteht, sich in einem medizinischen Notfall primär an die ILS zu wenden. Hierzu gehören unmittelbare Erreichbarkeit, gute medizinische Beratung und telemedizinische ärztliche Hilfe bei allen hierfür in Betracht kommenden Gesundheitsproblemen sowie bei Bedarf terminlich verbindliche und bevorzugte Vermittlung in die Weiterversorgung. … Leitstellen müssen eine leistungsfähige, rund um die Uhr erreichbare allgemeinärztliche und kinderärztliche telemedizinische Beratung bzw. Videosprechstunde einrichten.“

Erreichbarkeit hängt von Wegstrecke oder IT-Infrastruktur ab. Letztere bildet die Voraussetzung für Telemedizin. Diese wird sich durchsetzen, soweit sie ausreichend, zweckmäßig sowie von Patientinnen und Patienten akzeptiert ist. Ärztinnen und Ärzte sind aber deren Vertrauenspersonen und nicht x-beliebige Geschäftspartner. Deswegen erscheint es fraglich, ob ein solches System genug Akzeptanz finden würde, es sei denn erzwungenermaßen, weil es keine Alternative mehr gibt. Den KVen soll dann die Verantwortung für mögliche Unzufriedenheit zugewiesen werden. Außerdem sollen sie einen Großteil „der Zeche“ zahlen. Was hat das mit Rahmenbedingungen zu tun, welche eine gegenüber der Gesellschaft verantwortungsvolle Gestaltung der ambulanten medizinischen Notfallversorgung wie auch der ärztlichen und psychotherapeutischen Regelversorgung insgesamt zulassen?

Wer den Tresen und/oder das ganze INZ leitet, sollte nicht kleinteilig vom Gesetzgeber vorgegeben werden, sondern lokal von den beiden ärztlichen Leitungen gleichberechtigt vereinbart werden unter Berücksichtigung der vorhandenen Expertise und Kapazitäten. Als niedergelassener Hausarzt kann ich mich über die Zusammenarbeit mit den Notaufnahmen aller umliegenden Kliniken nicht beklagen, hätte also auch kein Problem, im Bereitschaftsdienst eventuell unter deren Federführung zu arbeiten.

Die Stellungnahme der Regierungskommission betrachtet immer nur das Angebot und niemals die Nachfrage. Etwa die Hälfte der Patientinnen und Patienten in Notaufnahmen gibt selbst an, dass sie kein richtiger Notfall seien, sind sich dessen also bewusst. Warum kann ihnen nicht zum Beispiel von ihren Krankenkassen jeweils am Jahresanfang ein einheitliches Guthaben eingerichtet werden anstelle der derzeitigen Boni für alles Mögliche und oft wenig Sinnhafte. Von diesen Guthaben wird dann für jede in Anspruch genommene kurative Leistung ein Beitrag abgezogen, dessen Höhe natürlich einkommensabhängig sein muss. Was am Jahresende übrig bleibt, wird von den Krankenkassen als Bonus ausgezahlt. Mit diesem Vorschlag sei eine ehrliche Diskussion unterstützt, einen Beitrag zur Lösung auch der oben genannten Probleme zu leisten. Bleiben wir zuversichtlich.

Mit herzlichen kollegialen Grüßen
 
Ihr Axel Stelzner