Ein Exkurs zur Gesundheitspolitik im Wandel der Zeit.
1986 definierte die Weltgesundheitsorganisation WHO in der Ottawa-Charta Gesundheit als „umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden“. Diese umfassende Definition des Gesundheitsbegriffes hat auch die Prävention und Gesundheitsförderung nachhaltig beeinflusst. So können die Menschen und ihre Verhaltensweisen nicht losgelöst von ihrer sozialen, physischen und auch spirituellen Umwelt betrachtet werden.
In der Antike wird Gesundheit gleichgesetzt mit einem Leben in Einklang mit der Natur. Das Gesundheitsverständnis geht dabei weit über das leibliche Wohlbefinden hinaus und schließt den Geist und die Seele mit ein. Das antike Konzept der griechischen „diatia“ ist eine Handlungsanweisung, die den Menschen helfen soll, eine ausgewogene Mischung ihrer Säfte und damit Gesundhe1986 definierte die Weltgesundheitsorganisation WHO in der Ottawa-Charta Dr. med. Barbara TeichmannGesundheit als „umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden“. Diese umfassende Definition des Gesundheitsbegit zu erreichen. Im Zentrum stehen Ernährung und Bewegung, so ist der gesamte Tagesablauf der Erhaltung der Gesundheit gewidmet. Große Bedeutung wird dabei der Selbstwahrnehmung und Selbstbeobachtung zugeschrieben. Hippokrates (ca. 460–380 v. Chr.) betont dann jedoch, dass Krankheit auch bei einer noch so ausgewogenen Ernährung und bei gesundheitsförderlicher Bewegung zu jeder Zeit eintreten könne. Galenos (129–199 n. Chr.), einer der späteren Vertreter der „diatia“, erweitert das Konzept dann auf die Lebensphasen der Menschen, deren unterschiedliche Gesundheitszustände unterschiedliche Maßnahmen bedingen.
Im christlich-mittelalterlichen Konzept der Gesundheitserziehung steht die seelische Gesundheit im Vergleich zur körperlichen deutlich im Vordergrund. Die Seele und damit der ganze Mensch sind auf Gott ausgerichtet und auf seine Gnade angewiesen. Benedikt von Nursia (480–547 n. Chr.) hat mit der Lex Benedicta eine umfassende christliche Lebensordnung verfasst, die auch sozialen und sozial-hygienischen Aspekten Rechnung trägt. Benedikt profitiert von seinen profunden Kenntnissen der antiken Gesundheitslehre und wendet diese auf die christlichen Prinzipien an.
Während bei Thomas von Aquin (1245–1274) die Neugierde noch eine Todsünde ist, entwickeln sich die Naturwissenschaften im 15. und 16. Jahrhundert mit Erfindung des Buchdruckes immer schneller.
Philipp Aureoltus Theophrastus Bombastus Paracelsus von Hohenheim oder kurz: Paracelsus (1493–1541) wendet sich in seinem Werk „de longa vita“ (1560) zugunsten eines wissenschaftlichen Gesundheitsbegriffes vom ausschließlich auf Gott ausgerichteten Gesundheitsverständnisses ab. Gott ist also nicht mehr der einzige Bezugspunkt für die Gesundheit, sondern der Kosmos, die Natur, die den Menschen gute und schlechte Entwicklungsmöglichkeiten vorgibt.
Im Zeitalter der Aufklärung ist es nicht mehr Gott, der die Dinge in der Umgebung des Individuums ordnet, sondern das Individuum selbst. Gesundheitsbewusstsein wird zur Aufgabe jedes mündigen Bürgers (Leibniz 1646–1716). Die Gesundheitsförderung, die Bedeutung der „Volksgesundheit“, die Bezüge zu Umwelteinflüssen (Ernährungssituation, Hygiene, Arbeitssituation) dringen in dieser Zeit auch in das Bewusstsein der Politiker ein. Diese erkennen, dass nicht nur die individuelle Gesundheitsförderung wichtig ist, sondern auch eine übergeordnete Gesundheitsplanung. Vertreter von staatlich verordneten Präventionsmaßnahmen fordern sogar eine „medizinische Polizey“ (Johann Peter Frank, Bd. 1 von 1779), die dafür sorgen soll, dass das unmündige Volk die Ratschläge auch umsetzt.
Im 19. Jahrhundert wirken sich sowohl die Entwicklung der Medizin als auch die wirtschaftlich-politischen Umwälzungen auf das Gesundheitsverständnis aus. Lebensvorgänge werden vornehmlich als physikalische und chemische Prozesse verstanden. Krankheit wird als Störung dieser physischen Prozesse gesehen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird in Deutschland die Gesundheitserziehung auf rein physische Aspekte und auf die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit reduziert.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert entwickelte sich eine Gegenbewegung, in der sich Anhänger von Freikörperkultur – Licht- und Nacktkultur – bis hin zu Schrebergarten-Initiative, Tierschutzorganisationen und Pfadfinderbewegungen vereinten. So heterogen sie auch waren, eines war ihnen gemeinsam: „Zurück zur Natur“. Wichtig bei dieser Bewegung war, dass die medizinische Wissenschaft als „unnatürlich“ verstanden wurde und die Gesundheitsförderung in die Hände von Laien- und Naturärzten mit pädagogischem Geschick, also „Gesundheitslehrern“, gelegt wurde, die dem Kranken wie dem Gesunden den Weg zur Gesundheit weisen sollen.
Gerade im nationalsozialistischen Deutschland wurde die im breiten Maße etablierte naturwissenschaftlich begründete Hygieneerziehung mit der Rassenideologie verbunden und – vermischt mit Elementen aus der Reformerbewegung – zu einer das Regime stärkenden unheilbringenden Gesundheitspolitik entwickelt.
Wenn man auf über 2.500 Jahre europäischer Gesundheitsbildung zurückblickt, so lassen sich zwei Grundtendenzen erkennen:
Das Gesundheitsverständnis jeder Epoche ist geprägt von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und den sozialen Strukturen der Gesellschaft.
Es erfolgt eine zunehmende Instrumentalisierung des Gesundheitsbegriffes durch die Wirtschaft und die Politik.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
seit dem 1. Jahrhundert nach Christus hat unsere Berufsgruppe eine moralische Richtschnur: den hippokratischen Eid – ius iurandum – benannt nach dem Arzt Hippokrates von Kos. Nach kleinen Modifizierungen wurde das Gelöbnis 2017 in Chicago grundlegend überarbeitet. Folgenden Punkt möchte ich hervorheben:
„Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit … oder anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.“
In diesem Sinne sollten wir uns den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen. Ich wünsche Ihnen Kraft bei der Ausübung unseres schönen Berufes.
Ihre Barbara Teichmann