„Es ist die ureigenste Aufgabe der Politik, zu integrieren und Grundkonsens herzustellen.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

zugegeben, der Titel ist etwas gewagt. Standpunkte zu beschreiben, das ist relativ simpel, eine Standortbestimmung, gerade im Kontext Corona, ist schwieriger. Denn je nach Betrachter steht für den Einen etwas fest, für den Anderen eben gerade nicht. Und dem Anspruch des Titels kann auch in diesem Format nicht wirklich entsprochen werden. Gesamtgesellschaftlich kommen wir aber um eine Standortbestimmung nicht herum.

Warum liegen gerade beim Thema Corona die Standpunkte oft so weit, ja teils unversöhnlich, auseinander und erschweren dadurch eine Standortbestimmung?

Auch deshalb, weil jeder von uns ausnahmslos davon irgendwie betroffen war und ist und dabei ganz verschiedene, eben auch existenzielle Ängste eine große Rolle spielen und jeder mit diesen Ängsten anders umgeht. Die Gefahr ist unsichtbar, schwer fassbar und kaum berechenbar. Von Corona-Leugnern bis zu völlig überzogenem Abschotten ist alles zu erleben, übrigens auch bei uns Ärzten und Psychotherapeuten. Und auch jetzt noch, da die Pandemie zumindest derzeit und hier, stark rückläufig ist.

Die Politik hat es, wie uns alle, ziemlich kalt erwischt. Allerdings gab es schon 2013 substantiierte Warnungen vor einem solchen Szenario und einen entsprechenden Bericht an den Bundestag, aber eine adäquate Reaktion erfolgte nicht.

Es ist immer leichter zu kritisieren, als zu regieren. Es steht jedoch zweifelsfrei fest, dass das Hickhack und Hinundher zwischen Bund und Ländern, bei aller Nachsicht für die besondere Lage, verunsichernd und kontraproduktiv war. Hier besteht Handlungsbedarf!

Fest steht aber auch, dass Deutschland alles in allem im Vergleich zu anderen Ländern trotz schlimmer Schicksale, sozialer Folgen und Verwerfungen ganz gut durch die Pandemie gekommen ist, und dass die Politik ihren Auftrag zur Daseinsfürsorge im Großen und Ganzen wahrgenommen hat.

Die Politik hat teils Vertrauen gewonnen, aber in nicht unerheblichen Teilen der Bevölkerung auch verloren, oder hat sich jetzt nur gezeigt, dass in diesen Teilen das Vertrauen schon längst weg war?

Der Vertrauensverlust hat sicherlich auch mit der besonderen Situation in der Pandemie zu tun. Zu einer Standortbestimmung gehört für mich auch, genauer hinzuschauen, was für Gründe tatsächlich noch ursächlich für den Vertrauensverlust sind. Ja, es gibt Unbelehrbare, Unerreichbare. Aber nicht alle, die als solche gelten, sind es. Und das Thema abzutun wäre gefährlich. Es besteht die Gefahr des weiteren Auseinanderdriftens der Gesellschaft. Corona ist hier wie ein Brennglas, gewissermaßen pars pro toto. Ich habe den Eindruck, dass Teile der Politik das nur nicht erkannt, die Sprengkraft noch nicht begriffen haben.

Es ist die ureigenste Aufgabe der Politik, hier anzusetzen, zu integrieren und einen größeren Grundkonsens herzustellen.

Zur Standortbestimmung gehört für mich auch, dass nicht wenige Politiker, allerdings auch Ärzte und Wissenschaftler, geradezu fahrlässig und manipulativ mit Daten und Begriffen umgegangen sind, je nach politischem Zweck. Das zerstört Vertrauen.

Ich empfinde teilweise das Kommunizieren der STIKO als – gelinde gesagt – suboptimal. Und nicht jede Entscheidung der STIKO muss man befürworten. Ich verstehe auch den Druck zum Handeln in der Politik. Aber diesen Druck von Seiten der Politik einfach auf die STIKO weiterzugeben mag kurzfristig den politischen Zielen dienen, schadet aber dem Vertrauen in dieses Fachgremium. Gerade dessen Unabhängigkeit – und fachlich gute Arbeit – begründete bisher das Vertrauen in dieses Gremium. Das setzt die Politik aufs Spiel.

Zuletzt, aber nicht am Rande, möchte ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen in der Niederlassung, in den Kliniken und in den anderen Bereichen der medizinischen Versorgung dafür bedanken, die ganz überwiegend stabil und zuverlässig durchgehalten haben und oft mit vielen Problemen im Organisatorischen und mit eigenen Nöten zu kämpfen hatten. Das gilt auch für unsere medizinischen Fachangestellten, Krankenschwestern und Krankenpfleger, auch für die Mitarbeiter in der Altenpflege.

Ich hoffe, dass eine wie auch immer zusammengesetzte Bundesregierung nach der Wahl berücksichtigt, dass unser Gesundheitssystem als Ganzes ein funktionierender und stabilisierender Faktor war und ist, was für die Politik nur eingeschränkt gesagt werden kann. Und bitte keinen gesetzgeberischen Aktionismus! Genau hinschauen, Bewährtes erhalten und aus Corona lernen, das ist aktuell medizinisch nicht die große Herausforderung, gesamtgesellschaftlich aber mit Blick auf unsere Zukunft schon.


Ihr Stefan Windau