Das Bundessozialgericht hatte sich in einer Entscheidung vom 6. April 2022 mit der genannten Thematik befasst. Das Urteil ist wichtig, weil dort auch Abgrenzungen zur Zweigpraxis vorgenommen werden.
Der Rechtstreit betrifft eine überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft (üBAG) für Labormedizin-Pathologie-Zytologie, die ein MVZ am Standort D und ein weiteres MVZ am Standort P betreibt. An beiden Standorten werden zytologische Laborleistungen für niedergelassene Gynäkologen erbracht.
Im Juni 2017 zeigte die üBAG (spätere Klägerin) der Kassenärztlichen Vereinigung (spätere Beklagte) an, in neuen Räumlichkeiten eine rein zytologisch tätige Praxisstätte betreiben zu wollen. Die KV teilte der üBAG mit, dass vertragsärztliche Leistungen nicht am neuen Standort in K erbracht werden können, weil sich der auszulagernde Praxisteil nicht mehr in räumlicher Nähe zum Standort des MVZ in P befinde.
Die Parteien stritten weiter vor Gericht. Während das Sozialgericht zugunsten der üBAG entschieden hatte, wies das Landessozialgericht die Klage ab. Es sei nach Ärztezulassungsverordnung zulässig, dass der Vertragsarzt spezielle Untersuchungs- und Behandlungsleistungen an weiteren Orten in räumlicher Nähe zum Vertragsarztsitz (= ausgelagerte Praxisräume) erbringe. Im Gegensatz zu einer genehmigungspflichtigen Zweigpraxis seien Ort und Zeitpunkt der Aufnahme der Tätigkeit gegenüber der KV unverzüglich anzuzeigen. Das Landessozialgericht (LSG) verneinte im konkreten Fall die räumliche Nähe zum Vertragsarztsitz. Mit einer Entfernung von neun Kilometern zwischen dem Vertragsarztsitz in P und den Räumlichkeiten in K und einer Fahrzeit mit dem Kfz von 17 Minuten (bzw. 19 Minuten in verkehrsstarken Zeiten) liege kein räumlicher Nahbereich mehr vor. Die klagende üBAG akzeptierte das Urteil des LSG nicht und legte Revision ein. Insbesondere wurde durch die Klägerin darauf hingewiesen, dass das Berufungsgericht die Maßstäbe zur Bestimmung der Entfernung von der ausgelagerten Praxisstätte zum Vertragsarztsitz überspannt habe.
Das Bundessozialgericht hat das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Sache zum LSG zur erneuten Entscheidung zurückgewiesen.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat zunächst auf die o. g. Vorschrift in der Ärzte-ZV verwiesen. Zusätzlich wurde die inhaltsgleiche Vorschrift im § 1 a Nr. 20 Bundesmantelvertrag Ärzte (BMV-Ä) genannt. Im BMV-Ä wird als Beispiel für ausgelagerte Praxisräume (Praxisstätte) ein OP-Zentrum genannt, in dem ambulante Operationen bei Versicherten nach Aufsuchen des Vertragsarztes an seiner Praxisstätte ausgeführt werden. Die räumliche Nähe zum Vertragsarztsitz wird in beiden Vorschriften gefordert, in denen spezielle Untersuchungs- und Behandlungsleistungen erbracht werden.
Das BSG hat darauf hingewiesen, dass es nicht der vom LSG getroffenen Auslegung folgt, dass es am Merkmal der räumlichen Nähe zum Vertragsarztsitz fehlt bei einer Entfernung von neun Kilometern zwischen Vertragsarztsitz und ausgelagerten Praxisräumen, für deren Zurücklegung ein PKW deutlich unter 30 Minuten benötigt. Das BSG hält die zeitliche Grenze von maximal 30 Minuten für ausreichend, aber auch erforderlich, innerhalb derer der Vertragsarzt am Vertragsarztsitz persönlich erreichbar sein muss, sofern er in ausgelagerten Praxisräumen als Vertragsarzt tätig ist.
Das BSG hat sich auch mit verschiedenen Entscheidungen und der Literatur auseinandergesetzt und führt unter anderem Folgendes zur Frage der räumlichen Nähe aus:
„Unter Berücksichtigung des aufgezeigten Meinungsstandes erachtet der Senat die zeitliche Erreichbarkeit des Vertragsarztes am Vertragsarztsitz innerhalb eines bestimmten Zeitraums als generell geeigneten Maßstab zur Konkretisierung der räumlichen Nähe von ausgelagerten Praxisräumen. Daran gemessen muss die persönliche Anwesenheit des Vertragsarztes regelmäßig spätestens innerhalb von 30 Minuten am Vertragsarztsitz sichergestellt sein, wenn er andernorts in ausgelagerten Praxisräumen tätig ist.“
Das Urteil sorgt für mehr Rechtssicherheit bei der Rechtsanwendung und Auslegung des Begriffs der räumlichen Nähe. Im streitgegenständlichen Fall konnte das BSG nicht selbst entscheiden, da durch das LSG im konkreten Fall noch zu prüfen ist, ob sich die Leistungserbringung in den ausgelagerten Praxisräumen tatsächlich auf spezielle, d. h. keine allgemeinen Untersuchungs- und Behandlungsleistungen bezieht. Die BSG-Richter wiesen hierzu darauf hin, dass am Sitz der Praxis bzw. des MVZ und in der ausgelagerten Praxisstätte nicht im Wesentlichen die gleichen Leistungen erbracht werden dürfen. Sofern das gesamte Behandlungs- und Leistungsspektrum in nahezu gleicher Qualität wie am Sitz der Praxis/des MVZ angeboten wird, liegt eine Tätigkeit in ausgelagerten Praxisräumen nicht mehr vor. Die Richter wiesen darauf hin, dass dann ggf. der Betrieb einer genehmigungspflichtigen Zweigpraxis vorliegt.