"Die Rahmenbedingungen werden – bewusst und gewollt – wider anderslautenden Beteuerungen zu unseren Lasten geändert."

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

schauen wir uns doch einmal an und um, und quasi in den Spiegel.

Die meisten von uns Ärzten und Psychotherapeuten sind optimistisch in die Niederlassung gegangen und üben ihren Beruf grundsätzlich auch gern aus, und die meisten fast ihr ganzes Berufsleben lang. Hier komme ich schon ins Stocken. Genauer gesagt, wir alle lieben unseren Beruf im eigentlichen Sinne, die Arbeit am und mit dem Patienten, aber die Rahmenbedingungen dafür haben sich verändert – zum Negativen.

Wir suchen Praxisnachfolger, aber die Regelung der Nachfolge, zumindest für eine inhabergeführte Praxis, wird schwieriger. Und das ist nur EIN Symptom, pars pro toto. Jetzt können Sie einwenden, dass es für die Nachwuchsförderung nicht gerade sinnvoll ist, unsere Probleme zu thematisieren, quasi die Niederlassung schlecht zu reden. Gerade letzteres will ich nicht, aber ich möchte erreichen, dass die Niederlassung als attraktive Alternative erhalten bleibt, genauer gesagt, wieder attraktiver wird! Und deshalb müssen die Probleme in aller Deutlichkeit genannt werden.

Das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (Zi) stellte vor wenigen Tagen fest, dass die Stimmung bei den niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten auf „einem historischen Tiefpunkt“ ist. Und das ist nicht nur Folge des aktuellen und viel zu niedrigen Honorarabschlusses zwischen KBV und GKV (Dies wird in einem anderen Artikel in diesem Heft behandelt, siehe Seite 5). Ich erlebe, dass viele Kolleginnen und Kollegen in die innere Emigration gehen. Die Praxen funktionieren noch, aber viele Kolleginnen und Kollegen und auch die nichtärztlichen Mitarbeiterinnen sind ausgepowert. Nicht wenige wollen eher aufhören als eigentlich geplant.

Die Arbeit mit dem Patienten ist nicht immer einfach, das war schon immer so. Das zunehmende Anspruchsdenken und der uneingeschränkte, ungesteuerte Zugang zur Leistung erschweren die Arbeit, aber für die Frustration der Kolleginnen und Kollegen sind andere Dinge entscheidend. Einige Beispiele:

1.  Wir sind beschäftigt!

Mit zunehmender Bürokratie, dem Antrag für den Antrag etc.: Kein Mensch überschaut mehr, wo welche Regelung gerade steht, gilt – oder schon wieder etwas geändert worden ist. Wird eine abgeschafft, folgen zwei neue. Und das geht immer schneller. Auch wir Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) sind daran nicht ganz unschuldig, und hier muss etwas geschehen! Aber zur Wahrheit gehört auch, dass die KVen gezwungen sind, die Gesetze, und seien sie noch so dysfunktional, umzusetzen. Der Berg wird immer größer statt kleiner. Antibürokratiegesetze kreieren paradoxerweise Bürokratie! Dresche bekommen die KVen, der Verursacher ist – ganz überwiegend – aber der Gesetzgeber.

Wir erleben eine verkorkste TI, vermutlich die umständlichste in Europa, und brauchen fast täglich mehr Kraft und Nerven für das Suchen und Beheben von Fehlern als der Umgang mit mehreren schwierigen Patienten am Tag Kraft kosten würde, und es dauert alles länger. Und zu guter Letzt werden WIR noch sanktioniert für das, was nicht klappt. Die KVen müssen das Geld eintreiben, wider Willen! Die KVen haben diese Regelung nicht erfunden, es war der Gesetzgeber!

2.  Und – wir werden beschäftigt!

Es gibt für all die schönen Gesetze und Verordnungen immer Begründungen, gegen die an sich im Grundsätzlichen meistens kaum etwas eingewendet werden kann. Und das macht es umso schwerer. Wer will beispielsweise etwas gegen Qualitätssicherung sagen? Aber, diese Regelungen sind so gestrickt, dass der in eigener Praxis Niedergelassene strukturell im Nachteil ist, er hat es schwerer, diese Auflagen etc. zu erfüllen. Viele sind mit der Flut der Anforderungen überfordert, kommen weniger zu ihren Kernaufgaben, nicht wenige resignieren.

3. Die Rahmenbedingungen werden – bewusst und gewollt – wider anderslautenden Beteuerungen zu unseren Lasten geändert

Gesundheitskioske werden implementiert, um die Struktur der ambulanten Versorgung grundhaft zu ändern. Der eigentliche Zweck der primär guten Idee – Hilfe in Brennpunkten – wird missbraucht, um den Kern der beabsichtigten Strukturänderung, die Substitution ärztlicher Tätigkeit, zu verschleiern. (Eine Kollegin schrieb mir vor Monaten dazu, allerdings sehr freundlich und sachlich, dass diese meine Ansicht an Verschwörungstheorien grenze. Ich empfehle ihr eine nochmalige Realitätsprüfung).
Vieles von dem, was in der Selbstverwaltung geeint wurde, wird vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) kassiert, weil es nicht in die politisch gewünschte Linie passt, siehe aktuell das Ersteinschätzungsverfahren für Notfälle. Das ließe sich beliebig erweitern.

Die Refinanzierung der Krankenhäuser, beispielsweise mit Blick auf Pflege- und Personalkosten, ist heute schon grundsätzlich strukturell stabilisierender angelegt als im niedergelassenen Bereich. Wir brauchen gute und leistungsfähige Kliniken, sie sind unsere Partner und nicht unsere Gegner, aber es ist eben auch richtig, dass das politische Agieren den stationären Sektor finanziell grundsätzlich und strukturell stützt, den niedergelassenen Bereich jedoch nicht. Und auch das hat Methode.
Thema Ambulantisierung. Niemand wird bestreiten, dass Ambulantisierung sinnvoll ist. Aber, wo wird sie stattfinden? Die gesetzlichen Regelungen, sieht man sie sich etwas genauer an, begünstigen wohl die Ambulantisierung – aber eher am Krankenhaus! Die Klinikmanager haben den Zug der Zeit erkannt – und setzen überwiegend schon längst auf Ambulantisierung – aber in ihrem Sinne. Die beabsichtigte Krankenhausreform wird diese Tendenz begünstigen (z. B. ambulant-stationäre Gesundheitszentren). Nun möchte ich aber auch klar sagen, dass Ambulantisierung am Krankenhaus durchaus auch fachlich sinnvoll ist, es kommt allerdings darauf an, wie die Gewichte grundsätzlich gehängt werden. Und ich sehe den vertragsärztlichen Bereich auch hier im strukturellen Nachteil, aufgrund der Rahmenbedingungen.

Alle reden von sektorenübergreifender Versorgung, aber wo wird sie sinnvoll gestaltet? Es geht mehr um Macht, Geld, Ideologie als um sinnvolle Lösungen.

4. Die Rolle des BMG – und weite Teile der politischen Entscheidungsträger

Am 18. August 2023 gab es in Berlin den Protesttag von KBV, KVen und Berufsverbänden. Die Kolleginnen und Kollegen haben es satt! Und es ging nicht nur ums Geld, sondern um wesentliche strukturelle Fragen, um Perspektiven für die Zukunft – und um von uns dargestellte Lösungsansätze. Man kann das Format nun so oder so sehen, aber die Veranstaltung wurde medial deutlich wahrgenommen. Der Bundesgesundheitsminister wurde öffentlich und auch schriftlich aufgefordert, bis zum 13. September, also bis zur nächsten KBV-Vertreterversammlung, auf die Fragen und Forderungen der Vertragsärzte und Psychotherapeuten zu antworten. Ob es nun glücklich war, quasi ein Ultimatum zu stellen, das sei einmal dahingestellt. Aber – was war die Antwort auf den Katalog von Fragen und Vorschlägen der KBV-VV vom 18. August?? Keine! Bis auf eine vage Bemerkung am Rande zur eventuellen Entbudgetierung bei den Hausärzten. Aber es kam noch schlimmer: In der Bundespressekonferenz am 13. September wurde der Minister nach der inhaltlichen Reaktion auf die Forderungen der KBV-VV und der Berufsverbände gefragt. Antwort: Er bekäme täglich viele Briefe, er könne sich nicht erinnern – und zum Ultimatum? Er erinnere sich auch nicht … (Sehen Sie es sich selbst an https://vimeo.com/864443033/6890d90f5c?share=copy.)

Das Ganze ist eine bodenlose Frechheit, ignorant und arrogant. Aber viel schlimmer. Es entlarvt den Minister und zeigt ganz offen seine tatsächliche „Wertschätzung“ für die Vertragsärzte und Psychotherapeuten, gleich was er sonst beteuert. Herr Lauterbach wurde in seiner Funktion als Minister gefragt und nicht primär als Karl Lauterbach als Person. Diese Reaktion ist eines Ministers unwürdig, unentschuldbar und in höchstem Maße unprofessionell. Und dass ein Bundesgesundheitsminister dies ungestraft öffentlich sagen kann, zeigt, dass die aktuellen politischen Entscheidungsträger das Agieren und die politische Stoßrichtung – gegen die Vertragsärzte – unterstützen, zumindest tolerieren. Es zeigt aber auch, und das ist vielerorts zu spüren, wie die politische Kommunikation verflacht – und die Arroganz der Macht offensichtlich wird.

5. KVen und Vertragsärzte

Ulla Schmidt hat es auf den Weg gebracht, andere haben es vorangetrieben. Negative Folgen von Regelungen und Gesetzen werden von vielen unserer Mitglieder überwiegend den KVen zugeordnet, Konflikte werden von außen bewusst verschärft. Wir müssen realistisch feststellen, dass unser politisches Gewicht als Vertragsärzte und Psychotherapeuten derzeit geringer ist, als wir es uns wünschen und als wir es wahrhaben wollen. Für diese Lage gibt es mehrere Ursachen, aber wir müssen uns als System die Frage stellen, was wir im Rahmen unserer Möglichkeiten ändern können, um unsere Position so zu stärken, wie es dem Handeln und der Bedeutung der Vertragsärzte und Psychotherapeuten für die ambulante Versorgung entspricht – und um die Niederlassung als Basis der ambulanten Versorgung zu stärken, für uns und für unsere Patientinnen und Patienten.

Ihr Stefan Windau