"Mein Ansinnen ist jedoch eher die Erinnerung an die weniger verletzenden Worte, die gleichwohl den Finger in die Wunde legen – in der Hoffnung, zum Denken anzuregen."

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

erinnern Sie sich auch? „Früher war mehr Lametta“, sprach der große Bernhard-Viktor von Bülow alias Loriot 1976 im Sketch „Weihnachten bei Hoppenstedts“ – eine ebenso feine wie böse Übersetzung des uralten Klagerufs, dass anno dunnemals alles besser war.

Vergessen. Wikipedia meint dazu: Verlust der Erinnerung; Geschwindigkeit und Umfang des Vergessens sind abhängig vom Interesse, von der Emotionalität der Erinnerung, Wichtigkeit der Information; die genaue Funktion des Vergessens ist größtenteils ungeklärt, psychologische und sozialwissenschaftliche Theorien möglich.

„Wer Wind sät, wird Sturm ernten“ ist ein Zitat aus dem Alten Testament bei Hosea, Kapitel 8, Vers 7 („Denn sie säen Wind und werden Sturm ernten“) und hat an seiner Gültigkeit nichts verloren. Es ist heute aktueller denn je und leider ist auch „Auge um Auge und Zahn um Zahn“ – immer wieder ein Thema.

Sprichworte – ca. 250.000 gibt es in der deutschen Sprache – stammen aus den unterschiedlichsten Zeiten und sollen helfen, universell geltende Aussagen treffen zu können und Argumente durch ihre Allgemeingültigkeit zu bekräftigen. Die Definition eines Sprichwortes ist hochkompliziert, erklärt Prof. Dr. Wolfgang Mieder, ein weltweit anerkannter Experte für Sprichwörter und Märchen, 1944 in Nossen geboren, lebt seit den 60er Jahren in Amerika und unterrichtet dort an der University of Vermont in Burlington deutsche Sprache und Folklore. Nach seiner Aussage gibt es nicht nur eine immense Menge an Sprichwörtern, sondern auch hunderte Definitionsversuche des Begriffes. Nach seiner Definition ist ein Sprichwort ein allgemein bekannter, fest geprägter Satz, der eine Lebensregel oder Weisheit in prägnanter, kurzer Form ausdrückt. Es muss sich um einen vollständigen Satz bzw. einen vollständigen Gedanken handeln.

Und schon haben wir wieder einen hochkomplizierten Sachverhalt für eine vermeintlich einfache Sache. Noch dazu für eine Sache, die tatsächlich in Vergessenheit gerät – fragen Sie doch einfach mal Ihre Famulanten, Studierenden, jungen Mitarbeiter, Kinder oder Enkel nach bei ihnen gebräuchlichen Sprichwörtern. Es wird weniger und natürlich gibt es auch dafür schon einige Erklärwebseiten für die jüngeren Generationen, was Sprichwörter sind und wofür sie benutzt werden und wurden (z. B. www.schreiben.net). Das ist nötig, haben doch Sprichworte häufig eine tröstliche Komponente und helfen im ärztlichen und privaten Alltag, Gespräche zu führen oder abzuschließen. Und obwohl sie kurz und prägnant sind, fehlt ihnen (zum Glück) das Bösartige und Verletzende so mancher Kommunikation der heutigen Zeit. Falls Ihnen dafür Beispiele fehlen sollten, können Sie sich gern an mich wenden. Mein Ansinnen dieses Artikels ist jedoch eher die Erinnerung an die weniger verletzenden Worte, die gleichwohl den Finger in die Wunde legen – in der Hoffnung, zum Denken anzuregen.

Denken ist das Selbstgespräch der Seele (Platon, 427 bis 348 v. Chr.) und um gegen das Vergessen anzugehen. Dabei gibt es viele Dinge, die in der gnädigen Versenkung des Verdrängens und Vergessens verschwinden sollten: kratzende Wolpryla-Hosen gehören genauso dazu wie abgebügelt zu werden oder Einsamkeit und noch vieles mehr. Nicht alles werden wir so einfach los oder können es vergessen, und nicht immer helfen Sprichworte aus der Krise – doch etwas Tröstliches findet sich dann doch – und wenn es nur die Erkenntnis ist, dass dieses Problem nicht zum ersten Mal auftritt oder bereits von anderen überwunden werden konnte.

Doch nicht alles sollte der Vergessenheit anheim gegeben werden, und Sprichwörter können zwar helfen, aber sie können sich auch widersprechen. „Aus Fehlern wird man klug.“ und „Aller guten Dinge sind drei.“ – man wird wohl immer das Wort auswählen, welches man in der Situation für sich selbst besser vertreten kann. Also sind auch sie kein Allheilmittel im Umgang miteinander – wenn auch doch eine höfliche Möglichkeit – denn ein Sprichwort als Schlachtruf ist eher unüblich.

Und um das Vergessen zu bekämpfen, gibt es viele Tipps und Tricks – auch Internetauftritte der Pharmaindustrie z. B. www.gegen-das-vergessen.net. Manchmal ist es jedoch wichtiger, dass keine kommerziellen Interessen hinter den Informationen gegen das Vergessen stehen, sondern echte Erinnerungsarbeit. So hat z. B. die DGVS (Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten) eine Initiative – Gegen das Vergessen (www.dgvs-gegen-das-vergessen.de/erinnerungsarbeit/) und versteht die Erinnerung an ihre entrechteten und ausgeschlossenen jüdischen Mitglieder aus der Zeit von 1931/32 als fortwährenden Auftrag. „Steter Tropfen höhlt den Stein.“

Für alle die, die sich an dem alttestamentarischen Zitat des Anfangs noch abarbeiten – hier findet sich Hilfe bei Prof. Dr. Manfred Oeming von der Universität Heidelberg, der der Verzerrung dieses Zitates einen Aufsatz entgegensetzt und natürlich auch den neutestamentarischen Bibeltext, der (zumindest für das Christentum) dazu gehört: „Da aber Jesus in der Bergpredigt des Matthäus sagt: ,Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin‘ “ und Ghandi dazu kritisch bemerkt: „Auge um Auge lässt die Welt erblinden …“.

Aller Anfang ist schwer. Nach unserem Ausflug in die Parömie wünsche ich eine besinnliche Weihnachtszeit. Kaufen Sie gern mehr Lametta, denn Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich verabschiede mich mit einem weiteren Zitat von Loriot aus dem Film „Papa ante Portas“:

„Die Welt geht unter, aber wir haben Senf, Wurzelbürsten und Badezusatz.“ – was soll denn da noch schiefgehen?

Herzlichst Ihre

 

Grit Richter-Huhn