Portrait über einen großartigen Musiker, Musikwissenschaftler, Mediziner und Psychologen

Der Neurologe, Musikwissenschaftler und Intendant Kurt Singer (1885 bis 1944) ist vor allem als Initiator des „Kulturbundes Deutscher Juden“ in Erinnerung. Sein unbedingter Wille zur künstlerischen Freiheit im Angesicht des drohenden Untergangs ist ein Fanal für das Einstehen gegen jeden Antisemitismus, wie ihn der Zeitgeist allzu oft wieder zutage fördert.

„Er war ein großartiger Musiker, ein Musikwissenschaftler, ein großer Mediziner und Psychologe. […] es war einmalig, dass ein einzelner Mensch derartig viele Begabungen hat und dabei so gesellig und freundlich blieb.“ Diese Worte der Sängerin Paula Salomon-Lindberg (1897 – 2000) gehören zu den wenigen persönlichen Aussagen über Kurt Singer, ein Multitalent, das mit seinen Fähigkeiten auf vielerlei Ebenen hervorstach und von seinen Zeitgenossen hoch geachtet wurde. Selbst Hans Hinkel (1901 – 1960), sogenannter „Reichskulturwalter“ und als Sonderbeauftragter zuständig für die Überwachung der geistigen und kulturellen Tätigkeit der „Nichtarier“ im deutschen Reichsgebiet, war von seiner Schaffenskraft und auratischen Erscheinung eingenommen, was diesem im Zusammenhang mit dem 1933 von Singer gegründeten „Kulturbund Deutscher Juden“ sogar gewisse Verhandlungspositionen gegenüber den Machthabern einräumte.

Frühe Jahre an Rhein und Spree

Kurt Bernhard Singer wurde am 11. Oktober 1885 in der Kleinstadt Berent (heute: Kościerzyna/Polen) unweit der damals westpreußischen Provinzhauptstadt Danzig geboren. Sein Vater, Dr. phil. Moritz Leopold Singer (1854 – 1900) ortsansässiger Rabbiner und Lehrer, siedelte mit seiner Familie im Jahr nach der Geburt des zweiten Sohnes Kurt ins rheinische Koblenz über, wo er an den örtlichen Gymnasien auch seine eigenen Kinder unterrichtete. Moritz Singer, der aus dem seinerzeit ungarischen Losoncz in der jetzigen Südslowakei stammte, war wie viele osteuropäische Juden von der deutschen Kultur und der dortigen deutsch-jüdischen Diaspora fasziniert. Die kulturell deutschbegeisterte und mit Stolz auf die eigene jüdische Herkunft angefüllte Sozialisierung, die der junge Gymnasiast im Elternhaus erfuhr, war der Impetus, der für Singers geistiges Schaffen ausschlaggebend war. Dabei zeigte er bereits früh sein großes musikalisches Talent an der Violine bei öffentlichen Auftritten u. a. mit Werken von Max Bruch und Felix Mendelssohn-Bartholdy.

Singer, der als Schüler für Violine sieben Jahre lang das Koblenzer Konservatorium der Musik besuchte, entschied sich unmittelbar nach seinem Schulabschluss 1903 für ein Medizinstudium an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität sowie an der Königlichen Charité in der Reichshauptstadt Berlin. Bereits 1908 promovierte er mit seiner Inaugural-Dissertation in Leipzig, die den Titel „Zur Klinik der Lungen-Carcinome“ trägt. Unabhängig vom chirurgischen Gegenstand seiner Dissertation war Singers eigentliche ärztliche Tätigkeit von seiner langjährigen Arbeit als Neurologe geprägt. Bereits unmittelbar nach seiner Zeit als Volontärassistent an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Königlichen Charité wurde Singer als „Prakt. Arzt und Nervenarzt“ in Berlin ansässig. In den Jahren 1918 bis 1930 war er in der Charlottenburger Rankestraße Nr. 15 als Nervenarzt in eigener Praxis tätig. 1915 heiratete Singer in erster Ehe Gertrud Horwitz (1885 – 1957) – aus der Beziehung gingen drei gemeinsame Kinder hervor. Bereits 1926 wurde die Ehe wieder geschieden. Auch die spätere Verbindung mit der Sopranistin Margret Pfahl (geb. 1897) ging auseinander.

Mit Kriegsbeginn 1914 wurde Singer als Lazarettarzt an der Front eingesetzt. Die Gräuel dieses ersten Weltenbrandes erlebte er hier unmittelbar. In medizinischen Fachblättern veröffentlichte Singer zahlreiche Beiträge, die die verheerenden seelischen Auswirkungen der Kriegsereignisse auf die Soldaten thematisieren und die heute als Posttraumatische Belastungsstörungen begrifflich erfasst werden. In „Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen“ (1918) beschreibt Singer die ansatzweise erfolgreiche Behandlung von kriegstraumatisierten Soldaten. Als hochangesehener Neurologe und zeitweiliger Fachbeirat des Berliner Hauptversorgungsamtes (welches Kriegsversehrte betreute und deren Rentenzahlungen regelte) setzten seine wissenschaftlichen Erkenntnisse einen orientierenden Richtwert in der damaligen Fachwelt.

Ihn damit allerdings nur auf seine ärztliche Tätigkeit zu reduzieren, würde dem Menschen Kurt Singer keineswegs gerecht werden. Denn neben seiner medizinischen Arbeit machte er sich vor allem auch in der Musikwelt einen Namen im Berlin der „Goldenen Zwanziger“.

Dr. Kurt Singer: Musiker. Arzt. Musiker-Arzt.

1913 gründete der gerade 28-jährige Singer den „Berliner Aerzte-Chor“, der bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten ganze 20 Jahre fester Bestandteil der Berliner Kulturszene war. Das Rüstzeug für seine musikalische Profession eignete er sich im Studium bei namhaften Komponisten wie Siegfried Ochs (1858 – 1929) an. Mit Aufführungen von Werken z. B. von Bach, Haydn, Brahms oder Bruckner erzielte sein Ärzte-Chor von der Kritik durchaus gefeierte Achtungserfolge. Infolge seiner Leistungen sowohl auf musikalischem wie auch auf medizinischem Gebiet erhielt Singer einen Lehrauftrag an der Berliner Hochschule für Musik, wo er über Berufskrankheiten von Musikern dozierte. Zugleich hatte er ab 1923 die Funktion des Leiters der Ärztlichen Beratungsstelle der Hochschule inne. 1926 veröffentlichte Singer sein wissenschaftliches Hauptwerk „Die Berufskrankheiten der Musiker“. Die darin beschriebenen Erkenntnisse, die er im Laufe der Jahre sozusagen aus erster Hand gewinnen konnte, waren eine Pionierleistung, mit der Singer schlagartig zu einer bis heute anerkannten Koryphäe der Musikermedizin wurde. Das 2002 an der Universität der Künste und der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin gegründete Institut für Musikphysiologie und Musikergesundheit trägt seinen Namen.

Seine therapeutischen Ansätze zu Lampenfieber und Auftrittsnervosität sind originäre Eckpfeiler der Grundlagenforschung jener Tage. Als „geborener“ Musiker-Arzt verstand Singer die Sorgen und Nöte seiner Musikerkollegen, da er wie kaum ein anderer den Leidensursachen das notwendige Verständnis und Feingefühl entgegenbringen konnte. Nicht zuletzt sprach er der Musik heilende und willensstärkende Fähigkeiten zu – eine Überzeugung, die Singers aktives Wirken für die kulturelle Selbstbehauptung in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, wenn nicht erklären, so doch erahnen lassen.

Flucht nach vorn: Ein kulturelles Refugium

Mit dem Beginn des nationalsozialistischen Terrors gegen die jüdische Bevölkerung wurde Singer aus all seinen Ämtern gedrängt. Antisemitische Anfeindungen zwangen ihn bereits 1932, seinen Lehrposten an der Hochschule für Musik aufzugeben. Singer, der auch als Intendant für die Städtische Oper Berlin (heute: Deutsche Oper) vor allem zeitgenössische Bühnenwerke realisierte, wurde untersagt, seine Arbeit fortzusetzen – für ihn, der er das kulturelle Leben Berlins der Zwanziger Jahre aktiv mitgestaltete, bedeutete dies das gesellschaftliche Aus. Doch Singer ließ sich nicht beirren. Bereits im Juni des Jahres 1933 veranlasste er die Gründung seines „Kulturbundes Deutscher Juden“ (1935 in „Jüdischer Kulturbund“ umbenannt). Ein mutiger Schritt – denn der Grat zwischen der Schaffung eines kulturellen Refugiums und der absehbaren Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten war nur ein sehr schmaler.

Alle Veranstaltungen dieser reichsweit etablierten Unterstützungsorganisation, die erzwungenermaßen auf kleineren Bühnen und in Synagogen stattfanden, waren ausschließlich auf jüdische Akteure zu beschränken – dies betraf nach und nach auch die Verwendung von Werken nichtjüdischer (deutscher) Urheber. Zudem unterlagen diese der strengen Überwachung durch nationalsozialistische Kontrollinstanzen. In den acht Jahren seines Bestehens bot der Kulturbund seinen bis zu 2.000 Mitarbeitern zumindest eine kleine finanzielle Sicherheit. Mit dem Kulturbund und seinem vielseitigen Angebot an Aufführungen von Opern, Theaterstücken, Lesungen oder Konzerten konnte ein zeitweiser geistiger Rückzugsort für das jüdische Publikum geschaffen werden. Ein Publikum, das im Angesicht der kulturellen Barbarei und der drohenden Vernichtung zumindest ein Minimum an Humanität und Lebensfreude aufrechterhalten wollte. Singer konnte in diesem selbstgeschaffenen Rahmen weiter in seiner bisherigen Funktion tätig sein: nicht nur als Intendant, sondern auch als Dirigent. Für ihn bedeutete der vermeintliche Widerspruch von „geistiger Ghettoisierung“ und scheinbarer Normalitätswahrung ein Hasardspiel sowohl aus Selbstverwirklichung als auch Selbstaufgabe für die Freiheit der Kunst.

Seine Versuche, den Kulturbund und dessen kreative Köpfe in die Vereinigten Staaten hinüberzuretten, scheiterten zum Teil an der Finanzierung. Von den zunehmenden Drangsalierungen und den Pogrom-Ereignissen des Jahres 1938 dann doch überrascht, kehrte Singer hilfebietend nach Europa zurück, verblieb jedoch im damals noch sicheren Amsterdamer Exil. Seine Bemühungen, doch noch nach Übersee auszureisen, ließen sich nicht mehr realisieren – es war zu spät. Mit dem Einmarsch der Deutschen in die Niederlande im Mai 1940 wurde Singer in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Trotz seines Prominentenstatus sowie der Tatsache, dass er als Veteran und verdienter Träger des Eisernen Kreuzes II ins Lager kam, erfuhr er keine bevorzugte Behandlung. Im Gegenteil – schwerkrank, unterernährt und entkräftet stirbt er am 7. Februar 1944 im Siechenheim des sogenannten „Altersghettos“ von Theresienstadt.

Bemerkenswert ist, dass Singer auch im Konzentrationslager, am Rande des existenziellen Abgrunds, weiter schöpferisch und unterhaltend in den perspektivlosen Lageralltag hinein- und darüber hinauswirkte. Bis zum Schluss.